Ich setze eine ungefähre Kenntnis der Bergpredigt voraus. Sie umfasst drei Kapitel im Matthäusevangeliums (5-7), beginnend mit den Seligpreisungen, dann folgen die sogenannten Antinomien – "den Alten ist gesagt worden, ich aber sage euch" –, danach Belehrungen über das Beten, Fasten und Almosengeben, das wir im Verborgenen tun sollen, damit es nur unser Vater im Himmel sieht und schließlich die großen Hinweise auf das Vertrauen in die Vorsehung Gottes: "Macht euch keine Sorgen"!
An wen richtet sich also die Bergpredigt? Am Beginn heißt es: "Als Jesus die Volksscharen sah, stieg er auf einen Berg und als er sich gesetzt hatte, traten seine Jünger zu ihm und er öffnete seinen Mund und lehrte sie"(Mt 5,1-2 wörtl.). Haben die Tausenden Menschen ihn nicht gehört, hat er nicht zu ihnen gesprochen? Jesus sieht die vielen Menschen, richtet sein Wort aber an die Jünger. Ist die Bergpredigt Jüngerbelehrung oder Volksbelehrung?
Ein anderer großer Prediger der frühen Kirche, der heilige Johannes Chrysostomos (†407), schreibt in seinen Predigten zum Matthäusevangelium zu dieser Stelle: "Seine Jünger traten zu ihm und er lehrte sie. Auf die Weise werden auch die übrigen weit mehr zur Aufmerksamkeit angeregt, als wenn er seine Rede auf alle ausgedehnt hätte" (Ds hl. Johannes Chrysostomus Homelien über das Evangelium des hl. Matthäus. Bd. I. Üs. Max Herzog von Sachsen, Regensburg 1910, S. 214). Vielleicht war es für Chrysostomos ein rhetorischer Trick, er redet zu einigen, unmittelbar um ihn, die anderen werden neugierig und hören umso genauer hin, was er diesen da sagt.
Papst Benedikt vertieft das in seinem Buch "Jesus von Nazareth": "Jesus setzt sich – Ausdruck der Vollmacht des Lehrenden. Er nimmt auf der ‚Kathedra‘ [dem Lehrstuhl] des Berges Platz." Jesus sitzt auf der Kathedra als Lehrer Israels und als Lehrer der Menschen überhaupt. "Denn", sagt der Papst, "mit dem Wort ‚Jünger‘ grenzt Matthäus den Kreis der Adressaten dieser Rede nicht ein, sondern weitet ihn aus. Jeder, der hört und das Wort annimmt, kann ein ‚Jünger‘ werden. Auf das Hören und Nachfolgen kommt es in Zukunft an, nicht auf die Abstammung. Jüngerschaft ist jedem möglich, Berufung für alle: So bildet sich vom Hören her ein umfassenderes Israel – ein erneuertes Israel, das das alte nicht ausschließt oder aufhebt, aber überschreitet ins Universale hinein" (Bd. 1, Freiburg/Br. 2007, S. 95). Alle können Hörer der Bergpredigt werden, und alle können deshalb Jünger werden. "Beides gilt: Die Bergpredigt ist in die Weite der Welt, Gegenwart und Zukunft hinein gerichtet, aber sie verlangt doch Jüngerschaft und kann nur in der Nachfolge Jesu im Mitgehen mit ihm verstanden und gelebt werden" (a.a.O. S. 98).
Die Bergpredigt richtet sich an alle Menschen aller Zeiten, aber unter der Voraussetzung der Jüngerschaft. Ich erinnere noch einmal kurz an die großen Themen der Bergpredigt: Sie beginnt mit den acht Seligpreisungen, der unerschöpflichen Charta der Jüngerschaft. Dann folgen zwei Bildworte, mit denen Jesus die Mission der Jünger beleuchtet: "Ihr seid das Salz der Erde…" "Ihr seid das Licht der Welt…" (vgl. Mt 5,13-14). Salz und Licht spricht eher eine Minderheitssituation an. Salz ist ja normalerweise nur in Prisen in der Speise, es ist nicht die Speise selbst. Licht erleuchtet den Raum, aber es ist nicht der ganze Raum. Hier ist also ein Kontrast zwischen "Euch" und "der Erde", "der Welt", zwischen den Jüngern und der Welt. Diese Spannung besteht auch in den sogenannten "Antinomien" der Tora: "Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten… Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein …" Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen …" (Mt 5,21-22.27-28).
An wen richten sich diese Antinomien, diese Radikalisierungen der Gebote? Kommt darin eine Elitemoral gegenüber der allgemeinen Norm zum Ausdruck, ein Ideal, das so hoch ist, dass man eher entmutigt ist? An wen richtet sich Jesus, wenn er am Anfang des 6. Kapitels sagt: "Achtet darauf, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen übt, um von ihnen gesehen zu werden"(Mt 6,1)? Das Almosengeben, das Beten und Fasten, also die klassischen Frömmigkeitsformen auch im Judentum, sollen im Verborgenen gelebt werden, nicht als Show, nicht um von allen gesehen zu werden, sondern nur vor dem himmlischen Vater, der sie auch belohnen wird. Dann folgen die Hinweise auf den himmlischen Vater, dem wir vertrauen sollen: Macht euch keine Sorgen, schaut auf die Lilien des Feldes, die Vögel des Himmels, sie säen nicht, sie ernten nicht, und doch ernährt sie euer himmlischer Vater (Mt 6,25-26). Deshalb sollen wir vertrauensvoll bitten, sollen uns seinem Willen überlassen. Das ist der Weg, den Jesus in der Bergpredigt weist. Ganz am Schluss noch einmal: "Wer diese meine Worte hört, befolgt, der hat auf Fels gebaut".