Dienstag 19. November 2024
Katechesen von Kardinal Christoph Schönborn

7. Katechese: Die Werke der Barmherzigkeit

Wortlaut der 7. Katechese 2007/08 von Kardinal Christoph Schönborn am Sonntag, 13. April 2008, im Dom zu Stephan.

Vom 2. bis 6. April 2008 hat in Rom der "Erste Apostolische Weltkongress" über die Barmherzigkeit stattgefunden. Es waren gesegnete Tage, beginnend mit der Seelenmesse für Papst Johannes Paul II., am dritten Jahrestag seines Todes, der damals der Sonntag der Barmherzigkeit war. Papst Benedikt XVI. feierte die Heilige Messe für seinen Vorgänger. Der Kongress endete mit dem "Regina Coeli" am darauf folgenden Sonntag, dem 6. April. Dazwischen waren vier dichte, reiche Tage voll mit Zeugnissen aus aller Welt über die Lebenswirklichkeit von Menschen, Gemeinschaften, die die Barmherzigkeit Gottes brauchen, betrachten, leben und weitergeben.

 

Es war beeindruckend wahrzunehmen, wie überall in der Kirche, in allen Teilen der Welt, der Hunger und Durst nach Gottes Barmherzigkeit spürbar ist und wie überall Menschen die Barmherzigkeit Gottes entdecken. Das vielleicht eindrucksvollste Zeugnis kam von der Ruandesin Immaculée Ilibagiza, die als einzige ihrer großen Familie, 90 Tage lang versteckt in ihrer Toilette, den Genozid in Ruanda überlebt hat. Sie hat nicht nur erlebt, wie ihre ganze Familie umgebracht wurde, sondern ist auch dem Mörder ihrer ganzen Familie begegnet. Sie hat erfahren, wie sie aus der Kraft der Barmherzigkeit Jesu, die sie tief im Herzen getragen hat, diesem Mörder verzeihen konnte. Heute gibt sie vielen Menschen auf der Welt Zeugnis, welche versöhnende und heilende Kraft von der Barmherzigkeit ausgeht.

 

I.

Heute möchte ich mich einem Thema widmen, das in den bisherigen Katechesen schon angeklungen, aber noch nicht ausdrücklich thematisiert worden ist, den "Werken der Barmherzigkeit". Die katechetische Tradition kennt sieben leibliche und sieben geistliche Werke der Barmherzigkeit. Die leiblichen Werke sind:

 

- Hungrige speisen
- Durstige tränken
- Fremde beherbergen
- Nackte kleiden
- Kranke pflegen
- Gefangene besuchen
- Tote bestatten

Die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit sind:

- Unwissende belehren
- Zweifelnden raten
- Trauernde trösten
- Sünder zurechtweisen
- Dem Beleidiger verzeihen
- Unrecht ertragen
- Für Lebende und Tote beten

Prof. Paul M. Zulehner hat diesem Thema ein schönes Büchlein gewidmet: "Gott ist größer als unser Herz. Eine Pastoral des Erbarmens", Osterfildern 2006.

 

Was ist der Grund dieser Werke der Barmherzigkeit? Jesus sagt: "Wir sollen barmherzig sein wie unser Vater im Himmel" (vgl. Lukas 6,36), das kann aber nicht nur in Gedanken und Gesinnungen bestehen, sondern muss sich in konkreten Gesten, Handlungen und Taten zeigen.

 

Der Apostel Jakobus sagt das sehr direkt: "Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke und ich zeige dir meinen Glauben aufgrund der Werke" (Jak 2,18). Und Jakobus begründet das: "Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung ist und ohne das tägliche Brot und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch! ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen - was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat" (Jak 2,15-17). "Denn wie der Körper ohne den Geist tot ist, so ist auch der Glaube tot ohne die Werke" (Jak 2,26). Der Glaube zeigt sich konkret in der Barmherzigkeit. Das Fehlen der Barmherzigkeit zieht unerbittlich Gottes Gericht nach sich. Der Lieblingsjünger Johannes sagt das ebenso klar wie Jakobus: "Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz (wörtlich: seine Eingeweide - splanchnia) vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben? Meine Kinder, wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit" (1 Joh 3,17 f.). Solche Herzenshärte lässt Gott nicht ungestraft: "Denn das Gericht ist erbarmungslos gegen den, der kein Erbarmen gezeigt hat (wörtlich: getan hat). Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht" (Jak 2,13).

 

Erbarmen tun - das ist auch im großen Gerichtsgleichnis Jesu das alles Entscheidende. Hier geht es um Tun oder Nichttun der Barmherzigkeit - um ewiges Heil oder Unheil, um Himmel oder Hölle. Sechs Werke werden eigens von Jesus genannt:

 

"Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben;
ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben;
ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen;
ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben;
ich war krank, und ihr habt mich besucht;
ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen" (Mt 25,35-36).

 

Die katechetische Tradition hat bald als siebtes Werk der leiblichen Barmherzigkeit hinzugefügt: "Tote begraben".

 

Jesus schließt: "Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40).

 

In Taten barmherzig sein berührt direkt Jesus selber. Wichtig ist dabei, dass jene, die "Werke der Barmherzigkeit" getan haben, gar nicht darum wussten, dass sie es Jesus getan haben: "Wann haben wir dich durstig, hungrig, fremd und obdachlos, nackt, krank und gefangen gesehen?" (vgl. Mt 25,37-39).

 

Jesus antwortet hier indirekt auf eine Frage, die immer wieder auftaucht und in der neuzeitlichen Moralphilosophie, etwa bei Immanuel Kant (1804), eine zentrale Rolle spielt: Tut man wirklich das Gute, wenn man es aus religiösen Motiven tut, um zum Beispiel Gott zu gefallen und Gottes Willen zu erfüllen, um den Geboten zu gehorchen? Verfälscht eine solche religiöse Absicht nicht die gute Tat? Diese Frage wurde in der Philosophie oft diskutiert. Helfe ich dem Notleidenden, um ihm zu helfen, oder tue ich es, um mir den Himmel zu verdienen? Wird bei einer religiösen Motivation die gute Tat nur zum Mittel, um den Zweck der Gottgefälligkeit zu erlangen?

 

Auf diese scheinbar rein philosophische Frage gibt Jesus im großen Weltgerichtsgleichnis eine klare Antwort: Die im Gericht bestehen werden, die Geretteten, haben einfach und direkt geholfen, ohne zu fragen, was ihnen das bringt, ohne nach irdischem oder himmlischem Nutzen zu streben. Sie haben einfach die Augen vor der Not des Nächsten nicht verschlossen. Genau das war es, was Gott wollte. So haben sie Jesus selber gedient. Jesus will nicht, dass wir die anderen, unsere Not leidenden Brüder und Schwestern, bloß als Instrument unserer eigenen Heiligung, als Mittel zum frommen Zweck benützen. Immer wieder ist es die selbstlose, selbstvergessene Gabe, die Gottes Erbarmen auf uns herabruft. Wir spüren deutlich, ob die Werke der Barmherzigkeit selbstlos, um des Nächsten willen geschehen, oder ob dabei auf Lohn, Anerkennung, eigenes "Sich-gut-fühlen" geschaut wird. Deshalb gibt es die wirklich lautere, selbstlose gute Tat auch bei Menschen, die sich selber als Atheisten verstehen. Wie es auch die selbstlose Güte bei Menschen anderer Religionen gibt. Überall gibt es Menschen, die sich dem Notleidenden gegenüber wirklich als Nächste erweisen. Im großen Gerichtsgleichnis spielen Religionszugehörigkeit - Jude oder Heide, Christ oder Nichtchrist - keine Rolle. Es zählt allein die gute Tat - oder deren Unterlassung.

 

II.

Noch eine wichtige Vorbemerkung: In diesem Gleichnis haben die auf der Linken, die Verdammten, eigentlich nichts Böses getan, sie haben nicht gemordet, nicht die Ehe gebrochen, nicht gestohlen. Selbst wenn sie es getan haben, zählt das im Gericht, zumindest in diesem Gleichnis Jesu, nicht, sondern nur das, was sie nicht getan haben, was sie unterlassen haben. Von allem, was wir im Schuldbekenntnis zu Beginn der Heiligen Messe aufzählen, hat das ausschlaggebende Gewicht nur das erste: "Ich bekenne Gott dem Allmächtigen und euch, Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe."

 

Im Katechismus findet sich die traditionelle Definition der schweren Sünde, oder Todsünde, das heißt jener Sünde, die den Menschen von seinem letzten Ziel, von Gott abwendet und so das ewige Heil gefährden: "Eine Todsünde ist jene Sünde, die eine schwerwiegende Materie zum Gegenstand hat und die dazu mit vollem Bewusstsein und bedachter Zustimmung begangen wird" (KKK 1857).

 

Nun geschehen aber die Unterlassungen oft, vielleicht sogar meist gar nicht "mit vollem Bewusstsein" und auch nicht mit "bedachter Zustimmung", sondern aus fehlender Aufmerksamkeit, aus Selbstbezogenheit, die blind macht für die Not des Nächsten. Der "reiche Prasser" war vielleicht gar nicht bewusst hart gegenüber dem armen Lazarus vor seiner Tür. Er hatte sich an seinen Anblick gewöhnt und war in seinem Wohlstand und seinem bequemen Leben unsensibel geworden für das Leid seines Mitmenschen.

 

Unterlassungssünden sind meist die giftige Frucht von vorausgehenden Unterlassungen. Im Katechismus heißt es deshalb: "Die Todsünde schließt auch eine genügend überlegte Zustimmung ein, um persönliche Willensentscheidung zu sein. Selbstverschuldete Unwissenheit und Verhärtung des Herzens (vgl. Mk 3,5-6; Lk 16,19-31) mindern die Freiwilligkeit der Sünde nicht, sondern steigern sie" (KKK 1859).

 

Das Unterlassen von Werken der Barmherzigkeit kommt aus der Verhärtung des Herzens. Wir sind wieder bei dem Punkt angelangt, der schon in der Bibel der entscheidende Punkt war: Herzensverhärtung ist Abfall von Gott. Wer sein Herz dem Nächsten gegenüber verhärtet, der ist von Gott abgefallen, auch wenn er äußerlich "fromm" bleibt. Wessen Herz sich der Not des Nächsten nicht verschließt, der ist Gott nahe, selbst wenn er sich selber für einen Atheisten hält und sich als solchen bezeichnet.

 

Ich möchte aus gegebenem Anlass hier wiedergeben, was mir Alfred Hrdlicka, der sich als Atheist, Kommunist bezeichnet, erzählt hat von der tiefen Liebe seiner Eltern, die in der Zwischenkriegszeit hier in Wien illegale Kommunisten waren und die sicher die Werke der Barmherzigkeit praktiziert haben. Die selige Schwester Restituta Kafka, deren 65. Todestag vor wenigen Tagen war, wurde zusammen mit einer Reihe von Kommunisten im Grauen Haus in Wien exekutiert. Im Drei-Minuten-Takt wurden 19 Menschen mit der Guillotine enthauptet, darunter Schwester Restituta, die einzige Ordensfrau, die in der Nazizeit enthauptet wurde. Die Kommunisten, die mit ihr exekutiert wurden, waren Straßenbahner aus der Brigittenau. Was war ihr Verbrechen? Sie hatten einen Gedenkkranz auf das Grab ihres Kollegen gelegt, der zum Tod verurteilt und exekutiert worden war wurde. Für einen schlichten Akt der Humanität und Pietät wurden diese sechs Männer zum Tod verurteilt. Ich bin sicher, wenn wir Schwester Restituta verehren, dann dürfen wir nie diese Männer vergessen, die mit ihr exekutiert worden sind, die als Atheisten und Kommunisten galten. Sie hatten ihr Herz sicher nicht verhärtet. "Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40).

 

Warum aber macht das selbstlos helfende Herz offen für Gott? Warum begegnen die, die den Notleidenden entgegengehen, dem "Ich" Jesu Christi? "Ich war hungrig ich war gefangen und du hast mir geholfen"? Ich glaube, der tiefste Grund dafür ist die "Beschaffenheit" (wenn ich so sagen darf) der göttlichen Barmherzigkeit und Liebe. Sie ist ihrem Wesen nach "selbstlos". Sie ist, wie die mystische Tradition der Kirche sagt, das "bonum diffusivum sui", das sich verströmende Gute. "Gott ist die Liebe", sagt Johannes (1 Joh 4,16), und diese Liebe liebt nicht, um sich selber zu verwirklichen, um selber mehr zu werden, sondern um sich mitzuteilen, zu verströmen.

 

Diese sich ohne Nötigung schenkende Liebe ist, so glauben wir, der tiefste Grund der Schöpfung. Sie ist nicht Zufallsprodukt, wie der "ideologische Darwinismus" meint, auch nicht ein Unfallsprodukt, wie die Gnosis annimmt, oder eine Illusion (Buddhismus), sondern Ausdruck der freien, liebenden Schenkung des Schöpfers. Deshalb ist der Mensch "nach Gottes Bild und Gleichnis" (vgl. Gen 1,26f) geschaffen, mit einer geschenkten, von Gott gewollten Freiheit, in der er Gottes Freigebigkeit nachahmen, Gott im Guten ähnlich sein kann.

 

Die Bibel lehrt uns, an einen Gott zu glauben, der in seiner Liebe so weit geht, sich die Bedürfnisse und Nöte seiner Geschöpfe zu eigen zu machen. "Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen Ich kenne ihr Leid", spricht Gott zu Mose aus dem Dornbusch. "Ich bin herabgestiegen, um sie aus der Hand der Ägypter zu entreißen und sie aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land" (Ex 3,7 f.).

 

Ein Gott, der das Elend sieht, das Leid kennt und der herabsteigt um die Gefangenen, Versklavten heraufzuführen in das Land der Freiheit: das ist das Urbild aller "Werke der Barmherzigkeit". Diesem Gott ähnlich zu werden ist nicht der Zweck, sondern die Wirkung der "Werke der Barmherzigkeit".

 

Weil Gott seinen Sohn gesandt hat, der bis in unser tiefstes Elend hinabgestiegen ist, es sieht und kennt und sich zu eigen macht, bis zur völligen Übernahme unseres Sündenelends, deshalb sind alle selbstlos getanen "Werke der Barmherzigkeit" wirkliche Begegnung mit Ihm. Er hat sich mit aller Menschennot identifiziert, und deshalb finden wir ihn am Grund allen Elends, dem wir uns zuwenden, bis hin zum Abgrund der eigenen Armseligkeit, in der der Herr auf uns wartet. Gerade die Selbstlosigkeit, die Selbstvergessenheit unserer "Werke der Barmherzigkeit" macht uns Gott ähnlich, bringt uns Christus nahe. Jesus hat es so oft gesagt: "Wer sich selbst verliert, findet sich".

 

Das hat auch einen Umkehrschluss zur Folge: Je mehr wir mit der selbstlosen Liebe Gottes vertraut werden, je mehr wir "die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Retters" (Tit 3,4) kennenlernen, die uns in Jesus Christus erschienen ist, desto selbstloser wird auch unsere Liebe. Je mehr wir uns in das Leben und Leiden, das Sterben und Auferstehen Jesu vertiefen, desto tiefer wird auch unsere Verbundenheit mit Seiner Menschenliebe, desto reiner, stärker und vollkommener wird unsere Hingabe an die, die Jesus als seine "geringsten Brüder" bezeichnet, seine Not leidenden Brüder und Schwestern. Nur wenn Christus in unseren Herzen vollen Raum findet, dann haben auch die wirklich Platz, mit denen er sich besonders identifiziert.

 

In seiner ersten Enzyklika hat Papst Benedikt XVI. dieser "Umkehr" einen sehr schönen Abschnitt gewidmet, den ich zitieren möchte. Heute, am "Guten-Hirten-Sonntag", passt dieses Zitat besonders gut, weil es auf die Pastoralregel, die Hirtenregel von Papst Gregor I., dem Großen (604) Bezug nimmt. Der Heilige Vater fasst zusammen, was Gregor schreibt:

 

Der rechte Hirte muss in der Kontemplation verankert sein. Denn nur so ist ihm möglich, die Nöte der anderen in sein Innerstes aufzunehmen, so dass sie die seinen werden: "per pietatis viscera in se infirmitatem caeterorum transferat". Gregor verweist dabei auf Paulus, der sich hinaufreißen lässt zu den größten Geheimnissen Gottes und gerade so absteigend allen alles wird (vgl. 2 Kor 12,2-4; 1 Kor 9-22). Dazu führt er noch das Beispiel des Mose an, der immer wieder das heilige Zelt betritt und mit Gott Zwiesprache hält, um von Gott her für sein Volk da sein zu können. "Inwendig (im Zelt) wird er durch die Beschauungen nach oben gerissen, auswendig (außerhalb des Zeltes) lässt er sich von der Last der Leidenden bedrängen - intus in contemplationem rapitur, foris infirmantium negotiis urgetur".

 

8. Damit haben wir eine erste, noch recht allgemeine Antwort auf die beiden oben genannten Fragen gefunden: Im letzten ist "Liebe" eine einzige Wirklichkeit, aber sie hat verschiedene Dimensionen - es kann jeweils die eine oder andere Seite stärker hervortreten. Wo die beiden Seiten aber ganz auseinander fallen, entsteht eine Karikatur oder jedenfalls eine Kümmerform von Liebe. Und wir haben auch schon grundsätzlich gesehen, dass der biblische Glaube nicht eine Nebenwelt oder Gegenwelt gegenüber dem menschlichen Urphänomen Liebe aufbaut, sondern den ganzen Menschen annimmt, in seine Suche nach Liebe reinigend eingreift und ihm dabei neue Dimensionen eröffnet. Dieses Neue des biblischen Glaubens zeigt sich vor allem in zwei Punkten, die verdienen, hervorgehoben zu werden: im Gottesbild und im Menschenbild (Deus Caritas est § 7, S. 15).

 

III.

Noch etwas wird aus dem Bisherigen deutlich: Die Werke der Barmherzigkeit sind Ausdruck elementarer Menschlichkeit. So sind sie auch in anderen Kulturen und Religionen zu finden. Paulus zeichnet zwar im Brief an die Gemeinde von Rom kein sehr schmeichelhaftes Bild vom Heidentum und stellt gerade das Fehlen von Erbarmen als Kennzeichen des Heidentums hin. Der erschütternde Verlust an Menschlichkeit macht für ihn das Heidentum zu einer Verfälschung der "Wahrheit Gottes":

 

Sie (die Heiden) vertauschten die Wahrheit Gottes mit der Lüge, sie beteten das Geschöpf an und verehrten es anstelle des Schöpfers - gepriesen ist er in Ewigkeit. Amen. Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen, ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung. Und da sie sich weigerten, Gott anzuerkennen, lieferte Gott sie einem verworfenen Denken aus, so dass sie tun, was sich nicht gehört: Sie sind voll Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, voll Neid, Mord, Streit, List und Tücke, sie verleumden und treiben üble Nachrede, sie hassen Gott, sind überheblich, hochmütig und prahlerisch, erfinderisch im Bösen und ungehorsam gegen die Eltern, sie sind unverständig und haltlos, ohne Liebe und Erbarmen. Sie erkennen, dass Gottes Rechtsordnung bestimmt: Wer so handelt, verdient den Tod. Trotzdem tun sie es nicht nur selber, sondern stimmen bereitwillig auch denen zu, die so handeln (Röm 1,25-32).

 

Dieses Bild, das Paulus hier zeichnet, ist das verlorengegangene Bild der Humanität. Die Grundaussage ist klar: Wo die Wahrheit über Gott verdunkelt wird, da geht die Humanität verloren. Die Menschlichkeit, wie sie in den Werken der Barmherzigkeit zum Ausdruck kommt, geht über unsere menschlichen Kräfte hinaus. Ohne die Barmherzigkeit Gottes ist unsere Barmherzigkeit schnell am Ende. Ohne Gottes Gnade fehlt uns die Kraft zur Barmherzigkeit: "Gott, der reich ist an Erbarmen, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht. Aus Gnade seid ihr gerettet" (Eph 2,4-5).

 

Ein erschütterndes Beispiel für die Richtigkeit der Paulinischen Sicht des unbarmherzigen Heidentums ist das Buch des russischen Schriftstellers Daniil Granin, "Die verlorene Barmherzigkeit. Eine russische Erfahrung" (Herder TB 4043, 1993). Es ist ein Buch über den Verlust von "Miloserdie", von Barmherzigkeit in der Sowjet-Gesellschaft. Granin geht dem verlorenen Begriff, der verlorenen Wirklichkeit des Erbarmens nach. Er fragt sich, was ist in einer Gesellschaft geschehen, in der angeblich nur mehr die Gerechtigkeit zählt, aber nicht mehr die Barmherzigkeit. Diese galt als veraltert, bürgerlich und allmählich ist das Gefühl dafür erstickt. Die große russische Literatur des 19. Jahrhunderts war noch erfüllt vom Thema des Mitleids mit den Erniedrigten, Gestrauchelten, Gestürzten, so das berühmte Gedicht Alexander Puschkins "Denkmal":

 

Und lange wird das Volk mich lieben,
weil meine Muse Güte weckte,
in harter Zeit die Freiheit rühmte
und Mitleid für Gestürzte hegte

 

Daniil Granin hat daraufhin begonnen, in der zusammenbrechenden Sowjetunion eine Gesellschaft "Miloserdie", ein Werk der Barmherzigkeit zu gründen. Von seinen schönen und schmerzlichen Erfahrungen handelt das Buch, von der Not, in der postsowjetischen Gesellschaft, wieder die Spuren der Barmherzigkeit zu finden und zu stärken. Diese Erfahrung brachte ihn zur Überzeugung, dass "die ständige, tägliche Arbeit der Barmherzigkeit von Menschen Eigenschaften abverlangte, die in unserer [sowjetischen] Wirklichkeit nicht heranwachsen konnten" (S. 121). Er kam zum Schluss, dass ohne die Hilfe des christlichen Glaubens die Barmherzigkeit zwar möglich, aber doch viel schwerer ist.

 

IV.

Die Geschichte der "Werke der Barmherzigkeit" spricht für diese Annahme. Denn weltweit ist das Christentum der große Motor für die Werke der Barmherzigkeit. Es ist unmöglich, sie alle im Einzelnen anzusehen und ihre Aktualität zu behandeln. Ich verweise hier nochmals auf das so anregende Buch von Prof. Zulehner. Ich beschränke mich auf einige Beispiele, die uns auch den großen Spannungsreichtum praktizierter Barmherzigkeit zeigen können. Ich nehme das dritte leibliche Werk der Barmherzigkeit: "Fremde beherbergen".

 

Jesus sagt: "Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen" (Mt 25,35). Im Individuellen ist das recht einleuchtend: Als wir im Herbst 1945 als Flüchtlinge nach Österreich kamen - Mutter und zwei kleine Kinder - da gab es Menschen, die dieses Werk der Barmherzigkeit praktiziert haben: Verwandte, die Platz gemacht haben, um die Flüchtlinge aufzunehmen. 1956 - ich erinnere mich gut daran - fanden Zigtausende Ungarnflüchtlinge Aufnahme. Auch später war es so, besonders im Bosnienkrieg, wo viele Wiener Pfarren einfach Platz für Flüchtlinge gemacht haben.

 

Schwieriger wird es mit dem Beherbergen von Fremden, die immigrieren wollen. Sie suchen Arbeit, eine Zukunft, ein Leben in mehr Sicherheit. Sie strömen unaufhaltsam nach Europa ein. Viele besorgte Stimmen fragen, was das Wort Jesu hier bedeutet: "Ich war fremd und du hast mich aufgenommen? Grenzenlose Immigration aus grenzenloser Barmherzigkeit? Das kann es nicht sein. Aber andererseits wird die Migration nicht aufzuhalten sein. Der Zaun zwischen Mexiko und den USA kann den Strom nicht eindämmen und kein Schengen-Abkommen bei uns.

 

Manche Briefe, die ich bekomme, sind darüber besorgt, auch aggressiv, gegen Immigration, besonders gegen die Zunahme der Muslime bei uns. Die Kirche, die Caritas sei schuld, heißt es pauschal. Barmherzigkeit hat auch politische, soziale, gesellschaftliche Dimensionen. Was ist eine Politik in Sachen Immigration, die den Ansprüchen der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit entspricht?

 

Zuerst muss zwischen Asyl und Immigration unterschieden werden. Das eine ist ein Menschenrecht, das streng eingehalten werden muss. Man wird einem Moslem, der bei uns Christ geworden ist, nicht das Asyl verweigern dürfen, wenn er zu Hause dafür mit der Todesstrafe oder Ermordung rechnen muss. Immigration hingegen ist politisch zu ordnen. Es gibt kein unbeschränktes Recht darauf. Der Staat hat das Recht und die Pflicht, hier ordnend einzugreifen. Er hat das Recht und die Pflicht, gewisse Bedingungen aufzustellen: Ja zur Verfassung, zur Gesetzordnung des Landes, Respekt vor der bestehenden Kultur.

 

Aber auch die Forderung nach Bereitschaft zum Zusammenleben, zum Annehmen des Fremden als Anderen. Bei allen Mängeln war doch die österreichische k.u.k. Monarchie ein selten gut gelungenes Beispiel vom Zusammenleben vieler Völker, Kulturen und Religionen.

Die Immigrationsfrage stellt aber auch Rückfragen an uns. Da ist zuerst die demographische Frage. Das heutige Europa hat dreimal de facto nein zu seiner Zukunft gesagt: Nach neuesten Statistiken betreffend die deutsche Bevölkerung kommen auf 100 Eltern 66 Kinder und 40 Enkel, ohne die Immigration. Wir haben das "Ja zum Leben" abgelehnt. Heuer ist es 40 Jahre her, dass "Humanae vitae" veröffentlicht wurde. In unserem Land (1975) und in ganz Europa wurde die Abtreibung freigegeben. Wenn jetzt auch die sogenannte "Homoehe" bei uns abgesegnet würde, das muss man, abgesehen von aller moralischen Beurteilung, ganz nüchtern sagen, ist das ein konkretes Nein zur Zukunft, weil es ein Nein zu Kindern ist.

 

Der Immigrationsdruck ist auch eine Folge dessen, was Europa als Entscheidung für seine eigene Zukunft getroffen hat. Ich weiß, das sind harte Worte, aber es sind Fakten.

Aber wir haben auch die Chance, denen die als Immigranten zu uns kommen, ein Zeugnis des Glaubens zu geben. Vielleicht gelingt den Christen in Europa ein so glaubwürdiges Zeugnis des Evangeliums, der Barmherzigkeit, der Liebe, dass sich die Herzen für den Glauben öffnen. Es wird sehr davon abhängen, ob die Menschen, die in das alte Europa kommen, hier auf das Zeugnis lebendigen Glaubens an Jesus Christus stoßen. Da bin ich voller Hoffnung, auch für Europa trotz der dramatischen demographischen Entwicklung.
V.

 

Alle Werke der Barmherzigkeit haben eine gesellschaftliche, politische, öffentliche Dimension. Hungernde speisen, Dürstende tränken, Kranke besuchen: Alles das hat sehr viel mit Strukturen des Erbarmens zu tun, mit Gesetzen, Institutionen, Organisationen, die die Barmherzigkeit gewissermaßen verkörpern. So sind Spitäler entstanden, Sozialeinrichtungen, soziale Netze, wie sie bei uns im Sozialstaat existieren. Ohne diese "organisierte Barmherzigkeit" ginge es nicht. Die katholische Soziallehre hat ein großes Rahmenwerk geschaffen, das die Bedingungen für eine möglichst gerechte Gesellschaft formuliert. Aber es wird dennoch immer der konkreten Barmherzigkeit bedürfen. Es wird nie genügen, die "Werke der Barmherzigkeit" völlig auf die Institutionen "abzuwälzen". In der Enzyklika Deus Caritas est hat der Heilige Vater das sehr klar gesagt:

 

Liebe - Caritas - wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen. Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben. Immer wird es auch die Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinn gelebter Nächstenliebe nötig ist. Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch - jeder Mensch - braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung. Nicht den alles regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat, der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen anerkennt und unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufsteigen und Spontaneität mit Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden. Die Kirche ist eine solche lebendige Kraft: In ihr lebt die Dynamik der vom Geist Christi entfachten Liebe, die den Menschen nicht nur materielle Hilfe, sondern auch die seelische Stärkung und Heilung bringt, die oft noch nötiger ist als die materielle Unterstützung. Die Behauptung, gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen, verbirgt tatsächlich ein materialistisches Menschenbild: den Aberglauben, der Mensch lebe "nur von Brot" (Mt 4,4; vgl. Dtn 8,3) - eine Überzeugung, die den Menschen erniedrigt und gerade das spezifisch Menschliche verkennt ("Deus Caritas est" Nr. 28 b).

 

Um diese geistig-seelische Dimension des Menschen geht es in den geistigen Werken der Barmherzigkeit. Dem Heiligen Johannes Chrysostomus (407) wird folgendes Wort zugesprochen:

 

In der Kirche gibt es nicht nur leiblich Arme, nicht nur solche, deren Leib hungrig ist oder die leiblich obdachlos sind. Es gibt auch geistlich Arme: ohne die Speise der Gerechtigkeit, ohne den Trank der Gotteserkenntnis, solche, die das Kleid Christi entbehren Es gibt Fremdlinge, deren Herz obdachlos ist, solche, deren Mut schwach und hinfällig ist, geistig Blinde, in ihrem Ungehorsam Taube, und Leute, die an verschiedenen geistlichen Krankheiten leiden und so krank sind, dass ihnen vor jeder Art geistlicher Nahrung graust.

(Ps.-Chrysostomus, Opus imperf. In Matth. 54, PG 56,946; zitiert nach Zulehner S. 74)

 

Die caritativen Orden sind in dieser Perspektive entstanden: es genügt nicht nur, die Kranken professionell richtig zu pflegen, es muss auch die menschliche Zuwendung stimmen und die geistliche. Eine rein materielle Barmherzigkeit würde, wie Papst Benedikt XVI. sagt, den Menschen verachten, ihm vorenthalten, was er notwendig braucht.

Unter allen geistlichen Werken der Barmherzigkeit ist wohl das am tiefsten ins Geheimnis der Barmherzigkeit hineinreichende: "denen, die uns beleidigt haben, gerne verzeihen." Hier zeigt sich am deutlichsten, dass Institutionen der Barmherzigkeit das nicht leisten können, so wichtig sie sind, etwa in der Form von Wiedergutmachungsleistungen. Auch "Wahrheits-kommissionen" können hier wichtig sein, die an begangenes Unrecht erinnern, es darstellen, die hinzuschauen nötigen. Aber das allein kann nicht ausreichen. Wenn das Herz nicht selber den Schritt zur Vergebung tut, kann keine Gerechtigkeit der Welt das geschehene Unrecht reparieren. Stephanus betet sterbend: "Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an" (Apg 7,60). Er tut hier, was Jesus selber am Kreuz getan hat: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lk 23,34).

 

Die Barmherzigkeit muss größer sein als die Gerechtigkeit. Ohne Barmherzigkeit wird die Gerechtigkeit selber zum Unrecht. Sie führt zum Gericht. Allein die Barmherzigkeit besiegt das Gericht. Wir alle hoffen auf diesen Sieg. Er ist unsere einzige Hoffnung.

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