Heute möchte ich mich einem Thema widmen, das in den bisherigen Katechesen schon angeklungen, aber noch nicht ausdrücklich thematisiert worden ist, den "Werken der Barmherzigkeit". Die katechetische Tradition kennt sieben leibliche und sieben geistliche Werke der Barmherzigkeit. Die leiblichen Werke sind:
- Hungrige speisen
- Durstige tränken
- Fremde beherbergen
- Nackte kleiden
- Kranke pflegen
- Gefangene besuchen
- Tote bestatten
Die sieben geistlichen Werke der Barmherzigkeit sind:
- Unwissende belehren
- Zweifelnden raten
- Trauernde trösten
- Sünder zurechtweisen
- Dem Beleidiger verzeihen
- Unrecht ertragen
- Für Lebende und Tote beten
Prof. Paul M. Zulehner hat diesem Thema ein schönes Büchlein gewidmet: "Gott ist größer als unser Herz. Eine Pastoral des Erbarmens", Osterfildern 2006.
Was ist der Grund dieser Werke der Barmherzigkeit? Jesus sagt: "Wir sollen barmherzig sein wie unser Vater im Himmel" (vgl. Lukas 6,36), das kann aber nicht nur in Gedanken und Gesinnungen bestehen, sondern muss sich in konkreten Gesten, Handlungen und Taten zeigen.
Der Apostel Jakobus sagt das sehr direkt: "Zeige mir deinen Glauben ohne die Werke und ich zeige dir meinen Glauben aufgrund der Werke" (Jak 2,18). Und Jakobus begründet das: "Wenn ein Bruder oder eine Schwester ohne Kleidung ist und ohne das tägliche Brot und einer von euch zu ihnen sagt: Geht in Frieden, wärmt und sättigt euch! ihr gebt ihnen aber nicht, was sie zum Leben brauchen - was nützt das? So ist auch der Glaube für sich allein tot, wenn er nicht Werke vorzuweisen hat" (Jak 2,15-17). "Denn wie der Körper ohne den Geist tot ist, so ist auch der Glaube tot ohne die Werke" (Jak 2,26). Der Glaube zeigt sich konkret in der Barmherzigkeit. Das Fehlen der Barmherzigkeit zieht unerbittlich Gottes Gericht nach sich. Der Lieblingsjünger Johannes sagt das ebenso klar wie Jakobus: "Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz (wörtlich: seine Eingeweide - splanchnia) vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben? Meine Kinder, wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit" (1 Joh 3,17 f.). Solche Herzenshärte lässt Gott nicht ungestraft: "Denn das Gericht ist erbarmungslos gegen den, der kein Erbarmen gezeigt hat (wörtlich: getan hat). Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht" (Jak 2,13).
Erbarmen tun - das ist auch im großen Gerichtsgleichnis Jesu das alles Entscheidende. Hier geht es um Tun oder Nichttun der Barmherzigkeit - um ewiges Heil oder Unheil, um Himmel oder Hölle. Sechs Werke werden eigens von Jesus genannt:
"Ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben;
ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben;
ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen;
ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben;
ich war krank, und ihr habt mich besucht;
ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen" (Mt 25,35-36).
Die katechetische Tradition hat bald als siebtes Werk der leiblichen Barmherzigkeit hinzugefügt: "Tote begraben".
Jesus schließt: "Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40).
In Taten barmherzig sein berührt direkt Jesus selber. Wichtig ist dabei, dass jene, die "Werke der Barmherzigkeit" getan haben, gar nicht darum wussten, dass sie es Jesus getan haben: "Wann haben wir dich durstig, hungrig, fremd und obdachlos, nackt, krank und gefangen gesehen?" (vgl. Mt 25,37-39).
Jesus antwortet hier indirekt auf eine Frage, die immer wieder auftaucht und in der neuzeitlichen Moralphilosophie, etwa bei Immanuel Kant (1804), eine zentrale Rolle spielt: Tut man wirklich das Gute, wenn man es aus religiösen Motiven tut, um zum Beispiel Gott zu gefallen und Gottes Willen zu erfüllen, um den Geboten zu gehorchen? Verfälscht eine solche religiöse Absicht nicht die gute Tat? Diese Frage wurde in der Philosophie oft diskutiert. Helfe ich dem Notleidenden, um ihm zu helfen, oder tue ich es, um mir den Himmel zu verdienen? Wird bei einer religiösen Motivation die gute Tat nur zum Mittel, um den Zweck der Gottgefälligkeit zu erlangen?
Auf diese scheinbar rein philosophische Frage gibt Jesus im großen Weltgerichtsgleichnis eine klare Antwort: Die im Gericht bestehen werden, die Geretteten, haben einfach und direkt geholfen, ohne zu fragen, was ihnen das bringt, ohne nach irdischem oder himmlischem Nutzen zu streben. Sie haben einfach die Augen vor der Not des Nächsten nicht verschlossen. Genau das war es, was Gott wollte. So haben sie Jesus selber gedient. Jesus will nicht, dass wir die anderen, unsere Not leidenden Brüder und Schwestern, bloß als Instrument unserer eigenen Heiligung, als Mittel zum frommen Zweck benützen. Immer wieder ist es die selbstlose, selbstvergessene Gabe, die Gottes Erbarmen auf uns herabruft. Wir spüren deutlich, ob die Werke der Barmherzigkeit selbstlos, um des Nächsten willen geschehen, oder ob dabei auf Lohn, Anerkennung, eigenes "Sich-gut-fühlen" geschaut wird. Deshalb gibt es die wirklich lautere, selbstlose gute Tat auch bei Menschen, die sich selber als Atheisten verstehen. Wie es auch die selbstlose Güte bei Menschen anderer Religionen gibt. Überall gibt es Menschen, die sich dem Notleidenden gegenüber wirklich als Nächste erweisen. Im großen Gerichtsgleichnis spielen Religionszugehörigkeit - Jude oder Heide, Christ oder Nichtchrist - keine Rolle. Es zählt allein die gute Tat - oder deren Unterlassung.