1. Katechese 2004/05: "Das Evangelium der Kathedrale"
"Das Evangelium der Kathedrale" - mit dem Untertitel: "Zur Theologie des Kirchengebäudes" heißt unser Jahresthema. "Das Evangelium der Kathedrale" - ist auch das Thema des heutigen Abends. Wir wollen gemeinsam versuchen, zu hören, was der Dom uns dazu sagen will.
Wir erfahren unsere Kirchen vor allem St. Stephan - heute sehr oft in erster Linie als kunsthistorische Besichtigungsobjekte. Der Dom, so scheint es, gehört tagsüber, gerade noch unterbrochen durch die Gottesdienstzeiten, den zahlenden Touristen, die sich in der Regel damit begnügen, - weil sie es so gewohnt sind und weil es überall auf der Welt so angeboten wird, - einige kunsthistorische Details zu bekommen, um St. Stephan in etwa einordnen zu können in den großen Horizont vergleichbarer Bauwerke, die sie auf ihrer Sightseeing-Tour alle mitnehmen.
Wir klagen über den verdunstenden Glauben, über einen zunehmenden Mangel an Spiritualität, wir haben oft das Gefühl, dass wir die Menschen mit unserer Botschaft, trotz aller Mühe, nicht mehr erreichen und das macht uns mutlos. Aber was können wir dagegen tun?
Unsere Kirchen sind, der Dom ist, eine ungeheure Kraftquelle, die bis jetzt - so meine ich - gerade "nur" im Gottesdienst wirklich "genützt" wird, aber darüber hinaus sehr oft nicht wirklich als solche erfassbar ist. Der Dom ist ein ganz besonderes "pastorales Instrument", das nicht nur - überspitzt formuliert - an Touristen verschwendet werden darf.
Wenn wir wirklich glauben, dass unsere Kirchen, im speziellen Fall der Stephansdom, Gottes Zelt, Gottes Wohnung auf Erden sind, dann müssen wir alles tun, dass ihre Botschaft, nämlich Ort der Begegnung mit Gott zu sein, auch wirklich bei den Menschen ankommen kann.
Grundsätzlich geht es ja immer um das eine - um die Frage nach dem Woher und dem Wohin und dem Wozu. Menschen aller Zeiten und Religionen haben versucht, darauf eine Antwort zu geben. Und diese Fragen sind auch in unserer Zeit, am Beginn des 21. Jahrhunderts, nicht verstummt und sie werden auch in Zukunft nicht verstummen.
Eine Antwort auf diese Fragen können uns die alten Kirchen geben - wenn wir ihre Sprache verstehen. Es ist eine wortlose Sprache, eine Sprache der leisen Zeichen und Symbole, eine Sprache, die man in der Stille am besten versteht.
Aber können wir die Sprache der Kirchen überhaupt noch verstehen?
Dieser Witz bringt es auf den Punkt: Wir sind eine mobile Generation, wir umreisen die ganze Welt, wir sind schon überall gewesen und wir sind vor allem immer schneller dort... und wir haben alles gesehen, so glauben wir zumindest. Tatsächlich haben wir zwar oft viel gesehen, aber nicht viel verstanden. Ein altes Sprichwort sagt: Man sieht nur, was man weiß. - Wir glauben, viel zu wissen, aber in Wirklichkeit wissen wir nicht viel vom Wesentlichen. Wir wissen vieles nicht mehr, was unseren Vorfahren selbstverständlich war. Wir wollen nun versuchen, ob wir hören können, was der Dom uns sagen will.
Wir haben nur eine knappe dreiviertel Stunde Zeit und das ist nicht viel. Wir wollen davon aber ein paar Minuten opfern. Wir wollen jetzt versuchen, einige Minuten ganz still zu sein, im dunklen Dom. Sie werden sehen, wie lang eine kurze Zeitspanne sein kann, aber das ist keine Zeitverschwendung. Wir Menschen sind Sinnesgeschöpfe, wir müssen mit allen Sinnen erfahren, was gemeint ist. Und um Gott zu begegnen, brauchen wir, sozusagen als erste Voraussetzung, - die Stille.
Der französische Schriftsteller Julien Green, 1998 in Paris gestorben und in Klagenfurt beigesetzt, beschreibt in seinen berühmt gewordenen Tagebüchern einmal genau diese unbedingt notwendige erste Voraussetzung: "Gestern abend in der Kapelle der Missionare in der Rue du Bac. Ein sehr alter Priester mit weißem Bart, vier Nonnen in Schwarz und zwei oder drei Laien waren in solche Andacht versunken, dass ich zwanzig Minuten lang nicht das leiseste Geräusch hörte und mit geschlossenen Augen den Eindruck hätte haben können, ich sei allein. Diese Stille hatte etwas Wunderbares. Pater Surin sagt, Gott besuche nur Seelen, die ruhig und leer sind."
Wir, aus dem Lärm und der Hektik draußen kommend, müssen dieses Gefühl der notwendigen Stille erst wiederfinden, wenn wir Gott begegnen wollen. Wir müssen den Unterschied bewusst wahrnehmen zwischen der Welt, in der wir leben und den Räumen, die ausgespart sind für das Heilige.
Ich möchte dem Thema, unter dem dieser heutige Abend steht - "Das Evangelium der Kathedrale - Zur Theologie des Kirchengebäudes" - noch ein Leitwort hinzufügen: "Zieh deine Schuhe aus, hier ist heiliger Boden"
Es stammt aus dem Kapitel 3 des Buches Exodus und berichtet von der Berufung des Mose. Als dieser eines Tages die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters Jitro, des Priesters von Midian, auf der Steppe weidete, kam er in die Nähe des Berges Horeb. Dort erschien ihm der Engel des Herrn in einem brennenden Dornbusch. Als Mose sich dem Dornbusch nähern wollte, rief Gott ihm zu: "Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden". Und Gott fuhr fort. "Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs". Und die Bibel erzählt weiter: Da verhüllte Mose sein Gesicht; denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.
Heute verhüllt kaum jemand mehr sein Haupt vor Gott. Wir fürchten uns nicht mehr, Gott in die Augen zu schauen.
Im Mittelalter, als Gotteshäuser wie St. Stephan erbaut wurden, war das anders. Wir wollen versuchen, uns einmal vor Augen stellen, wie der Mensch des Mittelalters, etwa zu der Zeit, als der Dom zu St. Stephan als Pfarrkirche des Bistums Passau erbaut wurde, - also im 12. Jahrhundert - diesen Kirchenbau erlebt hat.
Ein von einem struppigen Pferd gezogener Leiterwagen rumpelt daher, eine Schar zerlumpter Kinder läuft auf bloßen Füßen durch den Straßenschmutz. Die schmale Straße weitet sich zu einem Platz, der von einem Kirchenbau beherrscht wird. Das Gotteshaus ist, im Gegensatz zu den Kirchen Ihrer Heimat, mit kräftigen Farben bemalt. ...
Sie begegnen Menschen, die vielfältig gekleidet sind. Manche haben einfache graue oder braune Kittel ans und unterscheiden sich damit kaum von den vielen geistlichen Kuttenträgern. Handwerker in langen Lederschürzen gehen an Ihnen vorbei, an einen Ziehbrunnen steht, tratschend und lachend, eine Gruppe Frauen in enggeschnürten Miedern, mit Schürzen und Häubchen. Einige Männer mit Schläfenlocken, langem Bart und spitzem Hut kommen vorbei. Schlagartig verstummt das fröhliche Geplauder der Frauen - Juden sind in dieser Stadt offenbar nicht gerne gesehen...
Sie hören das Schnarren einer Klapper, blicken entsetzt in ein vom Aussatz zerfressenes Gesicht und weichen bis an den Rand des Platzes aus, wo es nach fremdländischen Gewürzen aus dunklen Gewölben duftet, in denen sich staubige Ballen Leinwand und Felle stapeln.
Am äußersten Ende des Platzes steht am Pranger der ausgemergelte Körper eines Mannes, über und über von Fliegen bedeckt, die sich das teilweise verkrustete Blut aus den Wunden der aufgeplatzten Rückenhaut schmecken lassen. Davor steht ein Ausrufer, der die Hinrichtung des Gefolterten am Rad für den nächsten Tag ankündet.
Langsam wird es Abend und Sie müssen sich beeilen, in Ihre Herberge zu kommen, denn die Straßen sind unbeleuchtet und von mancherlei lichtscheuem Gesindel bevölkert. Auch aus den Fenstern der Häuser dringt kaum ein Lichtschein. ..... Ein paar Männer mit langen Spießen und Laternen gehen auf Wache, betrunkene Studenten versuchen torkelnd ihr Quartier zu erreichen.
Plötzlich sehen Sie im Schein des Mondes die Silhouette des Domes, den Sie so gut kennen. Nur der hohe Turm ist noch nicht vollendet. Sie sind in Wien, im Wien des Mittelalters!" (Zitat aus Wien im Mittelalter von Reinhard Pohanka) Wir wollen uns nun in die Gläubigen von damals versetzen, die diesen Kirchenraum betreten haben. Hans Sedlmayer beschreibt es in seinem großen Werk, Die Geburt der Kathedrale, so: "Die Gläubigen des 13. Jahrhunderts, die in die Kathedrale eintreten, sehen sich unmittelbar in den Himmel versetzt und nehmen, zusammen mit den Bewohnern der himmlischen Kirche, die sich im Gottesdienst mit der irdischen vereinigt und deren Chöre hier erschallen, in unmittelbar sinnlichem Genuss teil an der Seligkeit der Anschauung des Himmlischen, das sie zuallererst in der Form des überirdischen Lichtes und des überirdischen Gesanges berührt."
Aber bevor der gläubige Besucher den Kirchenraum betrat, musste er eine ganz wichtige Grenze überwinden. Er musste die Schwelle überschreiten.
Wenn wir heute den Dom betreten, so überschreiten wir zumeist die Schwelle des Riesentores. - Wer denkt heute noch daran, was das bedeutet? Vor vielen Türen liegen Schwellen. Wozu sind sie da? Sie wollen die Achtsamkeit auf den Unterschied zwischen draußen und drinnen verstärken, zwischen den Räumen vor und hinter der Tür. Schwellen können Vorfreude erwecken, sie können aber auch Scheu und Angst, Schwellenangst, provozieren. Es gibt auch ergreifende Schwellenrituale, so war es zum Beispiel früher üblich, beim Hinaustragen eines Verstorbenen aus einem Haus über der Schwelle innezuhalten und mit dem Sarg ein Kreuzzeichen zu machen. Man darf Schwellen nie gedankenlos übersteigen.
nd so ist dem, der als Glaubender einen Kirchenraum betritt, ein dreifacher Schwellenritus auferlegt: das Eintauchen der rechten Hand in geweihtes Wasser, das Sichversiegeln mit dem Kreuzzeichen und die Kniebeuge vor dem Tabernakel.
Wie überschreiten wir die Schwelle des Domes, unserer Kirchen daheim - Wie haben Sie heute den Dom betreten? Was haben Sie gedacht, als Sie die Schwelle des Riesentores, des Haupttores, überschritten haben und die Lichter sahen? Wurde Ihnen bewußt, was Sie in diesem Augenblick getan haben? "Schwellen verdienen immer Aufmerksamkeit. Sie laden ein, sich noch einen Augenblick auf die Begegnung vorzubereiten, die geschehen wird, wenn die Tür geöffnet wird. Schwellen unterbrechen Wege, sie behindern nicht das Eintreten in den Raum, sie wollen aber dazu beitragen, dieses Eintreten bewusster zu gestalten. Schwellen unterbrechen Wege, die man sonst vielleicht zu gedankenlos, zu freudlos ginge..." sagt Bischof Egon Kapellari in seinem wunderschönen Buch über die heiligen Zeichen.
Und in St. Stephan ist es nicht schwer, die rechte Stimmung zu finden, beim Überschreiten der Schwelle. Denn über ihr, im Zentrum des Riesentores, thront ja der Hausherr persönlich, Christus, als der Herrscher der Welt, in der Mandorla, begleitet von Engeln und Aposteln, als einziger Heilsvermittler, der ja gesagt hatte, wie es uns Johannes 10,7-9 überliefert hat: "Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden..."
Die Tür, das Tor, war im Altertum ein wichtiger Ort, Grenze, Schutz vor Fremden, abends geschlossen. Am Tor herrschte reges Leben. Nach altorientalischer Vorstellung hatte auch der Himmel Tore, ebenso wie auch die Unterwelt. Auch die Bibel spricht von den Pforten des Todes. Im eschatologischen Sinn bezeichnet die geöffnete Tür den Zutritt zur ewigen Seligkeit, die geschlossene den Ausschluss vom Himmelreich.
Darum wird auch das Kirchentor bei der Kirchweihe eigens geheiligt. Darum spricht auch der Bischof bei der Weihe einer neuen Kirche: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Wer immer diese Schwelle überschreitet, erfahre hier Heil und Segen, Hilfe und Trost. Und wenn nun dieser Mensch des Mittelalters, geplagt von tausend Ängsten um sein leibliches und seelisches Wohl, aus seiner armseligen schmutzigen Behausung kommend, über die Schwelle des Domes in den Kirchenraum trat, dann befand er sich ganz plötzlich in einer anderen Welt, in einer Welt voller Wunder, - hier war nichts mehr ohne Bedeutung, alles hatte hier seinen tiefen Sinn.
Das Wort "Symbol" sagt es ja schon: griechisch "symballo" bedeutet ein Zusammenfügen zweier getrennter Teile eines Ganzen. Symbole sind Wegweiser in die Tiefe, in das Herz der Dinge. Mit den Augen des Glaubens betrachtet, ist die ganze Welt ein Symbol, das auf Gott verweist. St. Stephan enthüllt uns - einen Teil seines Wesens zumindest - in Symbolen.
Schon der äußere Eindruck des Kirchengebäudes war eine Botschaft: Entsprechend dem Lebensgefühl der Zeit nannten die Menschen ihre Kirchen Himmelsburg in der Romanik, - die Westwand von St. Stephan - Sinnbild des Himmlischen Jerusalems in der Zeit der Gotik, - der Dom des 14. und 15. Jahrhunderts mit den Wimpergen außen an den Langhauswänden, die an das mittelalterliche Stadtbild erinnern sollten; - himmlischer Festsaal im Barock - Hochaltar und Pfeileraltäre des Domes; den Verlust des Himmels im Gefolge der Aufklärung versuchte das 20. Jahrhundert, auch entsprechend der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils, dahingehend auszugleichen, indem das Kirchengebäude nunmehr als Versammlungsraum der Gläubigen gesehen wurde, die zu ihrem eschatologischen Ziel pilgernd unterwegs sind.
Während die frühen christlichen Jahrhunderte sich mit einigen wenigen Zentralideen des christlichen Glaubens zufrieden gaben, als deren sinnliche Verkörperung die Kirchengebäude angesehen wurden, - rückte das Mittelalter von dieser einfachen, vielsagenden Symbolik ab und begann, das ganze Gebäude des Gotteshauses in eine große Anzahl von Symbolen zu zerlegen. Eine ganz kurze tour d'horizon soll unseren Dom in den größeren Zusammenhang hineinstellen.
Ab dem Beginn des 3. Jahrhunderts geschah eine langsame Änderung: das Anwachsen der christlichen Gemeinde erforderte allmählich größere Räume für eine würdige Gestaltung des Gottesdienstes. Nach 313, nach Kaiser Konstantin und seinem Toleranzedikt, sah man in dem Kirchengebäude ein Symbol für die Gemeinschaft der nicht aus toten, sondern aus lebendigen Steinen, den Gläubigen, aufgebauten geistigen Kirche. Der hl. Augustinus stellt in seinem Sermo 252 de tempore den heiligen Tempeln aus Holz und Stein die weit wertvolleren Heiligtümer unserer Herzen und Leiber gegenüber. Eigentümlichkeiten im architektonischen Bau, wie auch bestimmte Zeremonien in der Liturgie wiesen immer wieder auf das Abbild des geistigen Baues im steinernen Bau hin. Wie etwa das Gottesvolk in Klerus und Laienstand zerfällt, so ist auch das Kirchengebäude in Schiff und Presbyterium geteilt. Da das Gotteshaus aber auch Symbol der Kirche auf Erden und ihres Sieges ist, wurde es auch zum Sinnbild des himmlischen Jerusalems, wie es im Messtext für das Kirchweihfest mit den Worten aus der Geheimen Offenbarung 21,2, deutlich wird: "Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabgekommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat." Dieses Symbol des himmlischen Jerusalem sollte für die Kathedrale der Gotik eine spezifische Bedeutung bekommen.
Ein weiterer Schritt verstand das Kirchengebäude als Thronsaal Gottes, als Wohnzelt unter den Menschen. Der Gedanke von der schaudererregenden Größe der Kirche als Wohnort Gottes tritt im Eingangslied der Messe vom Kirchweihfest besonders zutage. "Terribilis est locus iste: hic domus Dei est et porta coeli: et vocabitur aula Dei". Eine weitere symbolische Bedeutung erfuhr das Kirchengebäude im christlichen Altertum dadurch, dass manche Kirchenväter die geistige Kirche mit einem Schiff verglichen, das der ewigen Vollendung entgegenfährt, mit Gottvater als Kapitän, Jesus Christus als Steuermann und den Bischöfen und Diakonen als Matrosen, die das Schiff nach Osten lenken.
Dieses Bild findet sich erstmals im Taufbüchlein des Tertullian (De Baptismo 12) und dürfte seinen Ursprung im Lukasevangelium, 5,3 haben, wo es heißt: "Jesus stieg in das Boot, das dem Simon gehörte und bat ihn, ein Stück weit vom Land wegzufahren. Dann setzte er sich und lehrte das Volk vom Boot aus." Und schließlich wollte man im Kirchengebäude ein Bild der menschlichen Seele erblicken - auch dieser Deutungsversuch ging von der Heiligen Schrift aus, wo es im ersten Korintherbrief (3,16-17) heißt: Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr. - Diese symbolische Deutung leitet schon über in die Zeit des Mittelalters.
Der Zentralbau des Kirchengebäudes wies hin auf die Ausbreitung der geistigen Kirche über das Erdenrund, die kreuzförmige Anlage des romanischen Baues - die Querschiffe die Balken - war eine ernste Mahnung, den alten Menschen zu kreuzigen und dem gekreuzigten Herrn Jesus nachzufolgen (Röm 6,6: "Wir wissen doch: Unser alter Mensch wurde mitgekreuzigt, damit der von der Sünde beherrschte Leib vernichtet werde und wir nicht Sklaven der Sünde bleiben.") Heute trägt man in beide Anlagen eine weitere Symbolik hinein: der Zentralbau entspreche der ostkirchlichen Liturgie und ihrer anbetenden Haltung vor dem großen Gott, der Langhausbau hingegen wird zum Sinnbild des Schreitens zum gütigen Erlöser.
Dann tauchte der Gedanke auf, die kreuzförmige Anlage sei der Struktur des menschlichen Körpers abgelauscht: der Altarraum das Haupt, die Querschiffe die Arme, das Schiff nach Westen zu der übrige Teil des menschlichen Körpers.
Dies führt weiter zur Gliederung des Gotteshauses als ein Sinnbild für die verschiedenen Stufen der Gläubigen - Hugo von St. Viktor: der Altarraum als Symbol für die Jungfrauen, der Klerikerchor war hingegen den Enthaltsamen und das Schiff der Gemeinde der Verehelichten zugedacht.
Weitere Deutungsversuche - vor allem im romanischen Gotteshaus, der Gottesburg, mit ihren manchmal auftretenden Doppelchören im Osten und im Westen, versuchen die Lehre von den zwei Gewalten, dem Imperium und dem Sacerdotium, zu verdeutlichen. In Wien: Herrscherempore im Westen! - Und schließlich die Sinnbildhaftigkeit der gotischen Kathedrale als lichtfunkelnde Stadt Jerusalem - entsprechend den Worte der geheimen Offenbarung (21,9ff): "... die heilige Stadt Jerusalem, ... erfüllt von der Herrlichkeit Gottes. Sie glänzte wie ein kostbarer Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis."
Später wurden auch die einzelnen Teile des Kirchengebäudes zum Symbol, für die eine oder andere Glaubenswahrheit, bzw. zur Allegorie: Steine, Wände, Decke, Ziegel, Bänke wurden allegorisch ausgedeutet: die Steine als Sinnbilder der Gläubigen, die im Leibe der Kirche eine je nach ihren Fähigkeiten anders geartete Aufgabe erfüllen; die Wände mit ihren drei Dimensionen sollten die Liebe, Langmut und Hoffnung der Kirche zum Ausdruck bringen, während die beiden Hauptwände, die oft in Verbindung mit dem Eckstein gebracht wurden, nach Rabanus Maurus (+856) die Zusammensetzung der Kirche aus Juden und Heiden veranschaulichten.
Echte Symbolik vermittelten dagegen Kirchenfenster, Portale und Glocken. Die Fenster in ihrer zweifachen Bedeutung sollten allen schädlichen Einfluss von außen abhalten und Licht und Sonne in das Innere dringen lassen; Türme und Glocken wurden als Sinnzeichen der Glaubensverkündigung und Mahner zu einem echten Leben in Christus gesehen; Portalöffnungen waren Sinnbilder der Grenzen zwischen dem Reich der Finsternis und dem Reich des Lichtes, Abwehr alles Bösen und verheißungsvolles Zeichen der Einladung in das Heiligtum, vor allem aber waren sie ein Hinweis auf Christus, der von sich gesagt hatte (Joh 10,7): Ich bin die Tür... Riesentor!
So ändert sich die Bedeutung des Gotteshauses und bleibt doch im Wesentlichen dieselbe. Ein Raum, in dem man sitzen und stehen und knien kann vor Gott.
Alles das ist in St. Stephan erfahrbar: Der gotische Dom ist kein statischer, in sich ruhender Bau, in ihm ist Bewegung, Dynamik. Er appelliert an die Menschen, sich als Reisende zu verstehen, die unterwegs sind zu einem Ziel, zu Gott, der im Licht wohnt. Der Mensch, im Todesschatten des Westens, ist aufgerufen, sich auf die Reise ins Reich Gottes zu machen; die Kathedrale zeigt den Weg und sie ist der Weg, bis hin in den Sonnenaufgang, nach Osten zu, bis hin zum Allerheiligsten, ins ewige Licht.
In St. Stephan kann man diesen Gedanken sehr schön nachvollziehen: vom Westen her durch das Riesentor kommend, vorbei an Christus, der die Tür ist, führt der Weg des Menschen durch das Mittelschiff des Langhauses nach Osten zu, in Richtung Hochaltar - unter ihm - wir wissen das von den archäologischen Grabungen - die Toten, die ihr Leben bereits vollendet haben, auf halber Höhe der Langhauspfeiler begleiten ihn die Heiligen des Domes, deren Leben exemplarisch gelungen erscheint. Und in St. Stephan besonders schön zu erfahren: der Weg führt aus dem Dunkel ins Licht, direkt in den offenen Himmel, den Stephanus im Augenblick seines Todes offen sieht, wie das Altarbild des Hochaltares zeigt.
Dem Altar, dem Zentrum des Gotteshauses, in dem gleichsam alle Linien zusammenlaufen und seiner reichen Symbolik wird eine eigene Katechese im Dezember gewidmet sein, hier und heute ist leider nicht genug Zeit.
Auf seinem Weg gegen Osten zu sieht der Besucher des Domes die großen dunklen Wände, zusammengesetzt aus Steinen von unterschiedlicher Größe, Symbole für die unterschiedlichen Aufgaben der Christen. Manchmal viele kleine und dann wieder ein großer Stein, vielleicht sogar ein Eckstein. Jeder Stein hat seine Bedeutung für den ganzen Bau, es ist gleich schlimm für die Wand, wenn ein großer Steine an einem zentralem Ort herausfällt oder viele kleine herausbrechen.
Der Besucher sieht die bunt verglasten Fenster zu beiden Seiten, durch die die Herrlichkeit Gottes (Off 21,23: Die Stadt braucht weder Sonne noch Mond, die ihr leuchten. Denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie...) als helles Licht scheint; das Licht das Glaubens fällt ein ins Innere, in leuchtenden Farben der bunten Glasfenster, gleichsam gefiltert und verfeinert durch die Lehren der Propheten und Evangelisten. Die Fenster der Kathedrale, für den Raumeindruck keine Öffnungen, vermitteln den Eindruck aus sich selbst heraus leuchtender Wände.
Und schließlich sieht der gläubige Besucher die hohen schlanken Pfeiler, Sinnbilder der Apostel, die die Kirche tragen und stützen. Er blickt hinauf in das Gewölbe und spürt den Kampf der Kathedrale gegen die Empfindung der Schwere. Die durchscheinenden Strukturen der Wände bewirken, daß der Raum der Kathedrale den irdischen Gesetzen enthoben wird und das Gewölbe den Gläubigen den Himmeln mit allen Sinnen glaubhaft macht.
So eingestimmt, umgeben von der verdichteten Atmosphäre des Glaubens und Vertrauens auf Gott, konnte der Besucher sich feierlich auf die Begegnung mit Gott vorbereiten. Das wollen auch wir jetzt versuchen.
Vielleicht müssen wir uns abschließend aber auch noch fragen nach unserem Gottesbild. Denken wir, Gott ist ein guter Freund, ein Kumpel, oder denken wir, wenn wir "Gott" sagen, an den Propheten Jesaia und sein gewaltiges Gottesbild, das er uns in der Sprache und im Weltbild des 8. vorchristlichen Jahrhunderts (Jes 40,12) darbietet:
"Wer misst das Meer mit der hohlen Hand?
Wer kann mit der ausgespannten Hand den Himmel vermessen?
Wer wiegt die Berge mit einer Waage und mit Gewichten die Hügel?
Wer lehrt ihn das Wissen und zeigt ihm den Weg der Erkenntnis?
Seht, die Völker sind wie ein Tropfen am Eimer,
Sie gelten so viel wie ein Stäubchen auf der Waage.
Ganze Inseln wiegen nicht mehr als ein Sandkorn.
Alle Völker sind vor Gott wie ein Nichts,
vor ihm sind sie wertlos und nichtig.
Mit wem wollt ihr Gott vergleichen
Und welches Bild an seine Stelle setzen?
Weißt du es nicht? Hörst du es nicht?
Der Herr ist ein ewiger Gott, der die weite Erde erschuf."
Das ist ein gewaltiges Bild, dem wir heute unsere christliche Überzeugung hinzufügen können, dass wir in Jesus Christus des zweite Gesicht Gottes erfahren haben: neben der Größe und Allmacht auch noch die völlige Hingabe und Liebe Gottes an und für jeden Menschen, im Bild des Kreuzes, das in unseren Kirchen immer an zentraler Stelle zu finden ist. Wir können hier nicht unsere Schuhe ausziehen, aber wir wollen sie vielleicht symbolisch ausziehen. Das mag dann ein Zeichen sein für die Haltung, in der wir uns in Gottes Wohnung, hier im Herzen der Stadt, wiederfinden wollen. Wir wollen uns in Erinnerung rufen, was Kirche ist, was speziell diese Kirche für uns bedeutet.
Für mich sagt dies am Schönsten und umfassendesten jene Stelle der Geheimen Offenbarung (21, 3-5), wo es heißt: "Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu."
Das ist auch die Botschaft des Domes. Und damit diese Botschaft auch wirklich unser Herz erreicht, wollen wir dazu den Segen von oben erbitten.