Ist das die Barmherzigkeit?
Ist das die Barmherzigkeit?
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 20. Sonntag im Jahreskreis, 18.8.2002,
(Mt 15,21-28)
Man muss sich die Szene ganz plastisch vorstellen: Jesus hat sich mit einigen seiner Anhänger ins benachbarte heidnische Küstengebiet, in die Gegend von Tyrus und Sidon zurückgezogen. Als Juden sind sie dort Fremde, deshalb wollen sie sich möglichst unbemerkt und unauffällig verhalten. Der Ruf Jesu ist freilich auch schon im Ausland bekannt. Überall wird von seinen Heilungen erzählt, und wo gibt es keine Kranken?
Aus ist es mit dem Verborgenbleiben! Eine Frau hat irgendwie herausbekommen, wer dieser Fremde mit seinen Leuten ist. Sie sucht ihn auf und beginnt laut um Hilfe zu betteln, nicht für sich, sondern für ihre leidgeplagte Tochter. Dass sie meint, ein Dämon quäle ihr Kind, kann jede Mutter verstehen, die zusehen muss, wie das eigene Kind in die Fänge des Bösen gerät. Man muss schon blind sein um nicht zu sehen, dass es Teufel und Dämonen gibt, und dass ihr Wirken nicht harmlos, sondern lebenszerstörend ist.
Erschütternd der Hilferuf dieser Mutter: "Hab Erbarmen mit mir!" Und erstaunlich, dass sie, obwohl sie nicht die jüdische Religion hat, doch Jesus als Davidsohn anspricht, von dem sich die Juden Rettung und Heil erwarten.
Umso schockierender ist das Verhalten Jesu. Er antwortet ihr mit keinem Wort. Er scheint sie nicht einmal zu beachten. Ist das die Barmherzigkeit die er selber predigt? Seine Jünger erscheinen hier viel mitleidvoller. Sie bitten für die Frau, deren Not sie betroffen gemacht hat. Freilich kommt da noch ein anderes Motiv zum Vorschein, das weniger lauter ist. Den Begleitern Jesu war es offensichtlich peinlich, dass diese Frau so einen Wirbel macht, dass sie sich von Jesus nicht "abwimmeln" lässt und weiter um Hilfe schreit, was wohl inzwischen schon zu einer ganzen Ansammlung von Neugierigen geführt hat.
Jesu Mitleid ist anderer Art. Er gibt nicht gleich das Erbetene, nur um Ruhe zu haben, wie Eltern, die das "Penzen" ihrer Kinder nicht aushalten und ihnen kaufen, was sie wollen. Jesus zieht eine klare Grenze: sein Auftrag gilt seinem eigenen, dem jüdischen Volk, nicht den Fremden! Aber die Frau lässt nicht locker, wirft sich ihm in den Weg und bittet herzergreifend: Hilf mir!
Unfassbar, dass Jesus sich nicht rühren lässt. Seine Härte entsetzt. Er nennt sein Volk die Kinder und die Heiden Hunde, er, der ständig die Nächstenliebe predigt. Wie geht das zusammen? Das Ergebnis gibt ihm recht. Die heidnische Frau nimmt seine Worte an und kehrt sie um: Ja, Brot ist zuerst für die Kinder, aber die Hündlein bekommen doch was unter den Tisch fällt.
Jetzt ist Jesus ergriffen. Dieser starke, unerschütterliche Glauben bewegt ihn. Denn diese Frau hat ihm klar gezeigt, dass sie weiß: Anspruch auf deine Hilfe habe ich keinen, aber ein Vertrauen, das größer ist als alle Hindernisse. Den Glauben dieser Frau hat Jesus uns für alle Zeit vor Augen geführt. Aber zuerst hat er ihn durch seine scheinbare Härte erst richtig herausgefordert, zum Wachsen gebracht. Das schnelle Mitleid der Jünger erweist sich dem gegenüber als billige Bequemlichkeit, die nur die eigene Ruhe sucht.
In jener Zeitzog Jesus sich in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück.Da kam eine kanaanäische Frau aus jener Gegend zu ihm und rief: Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon gequält.
Jesus aber gab ihr keine Antwort. Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Befrei sie von ihrer Sorge, denn sie schreit hinter uns her.
Er antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.
Doch die Frau kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!
Er erwiderte: Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.
Da entgegnete sie: Ja, du hast Recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen.
Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt.