Wer im Leben an den Armen aller Art vorbeigeht, geht am Ende des Lebens verloren.
Wer im Leben an den Armen aller Art vorbeigeht, geht am Ende des Lebens verloren.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 26. Sonntag im Jahreskreis, 26. September 2004,
(Lk 16,19-31)
Es ist eine erschütternde Geschichte. Sagen wir nicht vorschnell, es sei ja "nur" ein Gleichnis, eine erfundene Geschichte. Sie ist leider dem Leben abgeschaut von einem, der wie kein anderer weiß, was im Leben der Menschen, und besonders in ihren Herzen, vorgeht.
Sie sind zahllos in unserer heutigen Welt, die "Lazarusse", die vor den Türen der Reichen liegen. In vielen Ländern ist es wörtlich so, wie es auch zur Zeit Jesu schon war: Sie liegen da, schwach, "voller Geschwüre", hungernd, verhungernd, und auch die Hunde fehlen nicht, die zwischen den Elenden herumstreunen.
Bei uns liegen sie nicht auf der Straße. Unsere Nöte sind weniger sichtbar, aber genauso "vor unserer Haustür": die Einsamkeit, die seelische Not, und zunehmend auch die materielle Armut.
Hinter seiner Tür lebt "ein reicher Mann". Jesus gibt ihm keinen Namen. Es geht ihm gut, und er lässt es sich gut gehen. Gönnt ihm Jesus nicht den Wohlstand? Ist Jesus ein Sozialrevolutionär, der gegen die Reichen hetzt? Das ist nicht das Thema der Geschichte. Es geht um etwas sehr viel Schlimmeres: Der Reiche sieht den Armen vor seiner Tür nicht mehr. Er ist vielleicht gar nicht böse. Er mag mit seinen Freunden großzügig und herzlich sein. Aber irgendwie ist er blind geworden. Das ist die große Gefahr. Am schlimmsten zählen die Versäumnisse, die Unterlassungen. Was ich zu tun versäume, ist unwiderruflich verpasst.
Das will wohl Jesus auch mit dem Blick hinüber ins Jenseits sagen. Es geht nicht um eine "Reportage" über Himmel und Hölle, Paradies und Verdammnis. Jesus will uns aufrütteln: Jetzt ist die Zeit zu handeln. Nach dem Tod ist es zu spät. Drüben ist ein unüberwindlicher Abgrund zwischen dem Paradies, "Abrahams Schoß", und der "Unterwelt", dem Ort der Qualen. Wenn wir einmal "drüben" sind, kann dieser Abgrund nicht mehr überschritten werden. Aber jetzt ist es möglich. Du brauchst nur deine Tür zu öffnen und den Lazarus wahrzunehmen. Wenn dir seine Not zu Herzen geht, wenn du dein Brot mit ihm teilst, dann ist schon kein Graben mehr zwischen euch.
In seiner "Höllenqual" bittet der Reiche, Abraham möge ihm doch Lazarus mit einem Tropfen Wasser herüberschicken, um seine Not zu lindern. Heißt das nicht im Klartext: dieser Arme ist die Brücke, die dich über den Abgrund deines ewigen Elends ins Glück führen kann? Nur musst du diese Brücke jetzt beschreiten, solange es noch Zeit ist.
Das deutet Jesus selber an, wenn er dem Armen einen Namen gibt: Lazarus! Vor Gott ist der Arme nicht eine Nummer, namenlos. Noch deutlicher: "Lazarus" bedeutet auf Hebräisch: "Gott kommt zu Hilfe". Gott hilft nicht nur dem Armen, indem er ihm das Paradies schenkt. Er hilft den Reichen durch die Armen, dass ihr Herz nicht hart wird. Wer im Leben an den Armen aller Art vorbeigeht, geht am Ende des Lebens verloren. Das ist die ernste, wichtige Botschaft Jesu. Viele haben sie seither angenommen. Viele leben danach, ohne sie gehört zu haben, weil sie einfach den Lazarus vor ihrer eigenen Tür nicht übersehen haben. Er wird ihnen helfen, einmal glücklich "drüben" am Ziel anzukommen.
Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag herrlich und in Freuden lebte.
Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war. Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren.
Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen.
Auch der Reiche starb und wurde begraben. In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß.
Da rief er: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir und schick Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer.
Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden.
Außerdem ist zwischen uns und euch ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund, sodass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann, selbst wenn er wollte.
Da sagte der Reiche: Dann bitte ich dich, Vater, schick ihn in das Haus meines Vaters! Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen.
Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören. Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren.
Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht.