Wie viele Menschen erleben sich selber heute als solche unter den Lebenden wandelnde Tote.
Wie viele Menschen erleben sich selber heute als solche unter den Lebenden wandelnde Tote.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
zum 28. Sonntag im Jahreskreis, 10. Oktober 2004
(Lk 17,11-19)
Es gibt sie bis heute, die Aussätzigen, die Leprakranken. Ich sah sie in Nigeria am Rand der Landstraße sitzen, ihre verstümmelten Hände Hilfe suchend ausgestreckt. Es kostet Überwindung, in ihre von der Krankheit zerfressenen Gesichter zu blicken. Heute, wie damals zur Zeit Jesu, löst diese schreckliche Krankheit Angst und Abscheu aus. Die Aussätzigen sind wie Ausgestoßene. Die Insel Molokai bei Hawaii war eine Insel der Verbannten, dorthin wurden die von der Lepra Befallenen verfrachtet, ausgesetzt und ihrem trostlosen Schicksal überlassen. Ein belgischer Priester, Damian de Veuster, war von ihrem Los so erschüttert, dass er freiwillig zu ihnen ging, als Bote der Liebe Gottes zu diesen wie lebendig Begrabenen. Viele Jahre hat er unter ihnen gewirkt, das Evangelium der Hoffnung vorgelebt und umgesetzt, bis er selber ganz und gar einer der Ihren wurde. Er starb an der Lepra im Jahre 1889.
Der Selige Damian de Veuster war von der Liebe Jesu zu den Ärmsten gepackt. Wie Jesus ging er nicht an ihnen vorbei, schaute nicht weg von ihrem Elend, blickte in ihre entstellten Gesichter und sah in ihnen den Menschen, den Bruder, die Schwester in ihrem Leiden.
„Hab Erbarmen mit uns!“ - dieser laute Hilferuf, dieser Notschrei der Aussätzigen hat Jesus im Herzen getroffen. Die Lepra ist bei uns verschwunden, nicht der Aussatz, der Menschen ausgrenzt, isoliert, einsam macht. Ich denke an die vielen, zu vielen jungen Menschen, die in die Drogen abgestürzt sind. Manche Langzeitarbeitslose erleben ihre Situation wie eine Krankheit, wegen der sich viele von ihnen zurückziehen. Sie werden gemieden, es ist peinlich zu hören, dass sie immer noch ohne Arbeit sind.
Damals, zur Zeit Jesu, war die Lepra ein sozialer Tod. Die Aussätzigen waren lebendig Tote. Wie viele Menschen erleben sich selber heute als solche unter den Lebenden wandelnde Tote. Psychisch Kranke beschreiben manchmal ihren Zustand mit solchen Worten.
Damals war Heilung der Lepra höchst selten. Sie galt als ein Wunder, fast so groß wie die Auferweckung eines Toten. Gibt es heute solche Wunder? Ich habe sie gesehen. Jeder kann sie sehen. Etwa in der Gemeinschaft „Cenacolo“, in der drogensüchtige junge Menschen wirklich zu neuem Leben kommen. In Kleinfrauenheid im Burgenland ist eine dieser Gemeinschaften. Wer die jungen Männer dort sieht, wie sie arbeiten, beten, fröhlich sind, voller Kraft und Leben, kann sich nicht vorstellen, dass diese alle einmal Todeskandidaten der Drogensucht waren, moderne Aussätzige.
Die hinreißende italienische Ordensschwester Elvira, die Gründerin dieser inzwischen zahlreichen Gemeinschaften, sagt klar, wie diese Wunder zustande kommen. Jesus hat den Tod besiegt, Er lebt und wirkt heute genauso Wunder wie vor 2.000 Jahren, sichtbare, greifbare!
Traurig ist freilich, dass nur einer der zehn geheilten Leprakranken Jesus gedankt hat. Das ist wohl vor allem eine Frage an mich persönlich. Denn hat Jesus nicht auch mich geheilt - durch seine Barmherzigkeit, mit der er mich annimmt und liebt. Habe ich das so schnell vergessen? Oder muss ich es erst begreifen lernen?
Auf dem Weg nach Jerusalem zog Jesus durch das Grenzgebiet von Samarien und Galiläa. Als er in ein Dorf hineingehen wollte, kamen ihm zehn Aussätzige entgegen.
Sie blieben in der Ferne stehen und riefen: Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns! Als er sie sah, sagte er zu ihnen: Geht, zeigt euch den Priestern ! Und während sie zu den Priestern gingen, wurden sie rein.
Einer von ihnen aber kehrte um, als er sah, dass er geheilt war; und er lobte Gott mit lauter Stimme. Er warf sich vor den Füßen Jesu zu Boden und dankte ihm. Dieser Mann war aus Samarien.
Da sagte Jesus: Es sind doch alle zehn rein geworden. Wo sind die übrigen neun? Ist denn keiner umgekehrt, um Gott zu ehren, außer diesem Fremden?
Und er sagte zu ihm: Steh auf und geh! Dein Glaube hat dir geholfen.