"Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt?"
"Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt?"
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 24. Sonntag im Jahreskreis 11. September 2005,
(Mt 18,21-35)
Petrus will eine klare Antwort: Wie oft muss ich dem "Bruder" verzeihen? Es geht um die Fehler im engsten Kreis, in der Familie, der Gemeinde, der Gemeinschaft. Es ist die Rede vom Verhalten der Christen untereinander. Schlimm genug, dass wir einander kränken, verletzen, beleidigen. Es geht nicht immer sehr christlich zu unter uns Christen. Und es ist kein Trost, darauf hinzuweisen, dass es auch anderswo schlimm zugeht. Denn gerade unter Christen sollte es anders sein.
Es ist nicht anders. Es "menschelt" auch in christlichen Gemeinden. Aber alles hat seine Grenzen. Petrus will die Grenze genau kennen. Ab wann muss Schluss sein mit dem Verzeihen? Sicher, wir müssen miteinander Geduld haben. Aber einmal reicht’s. Es kommt der Moment, in dem ein klarer Schlussstrich gezogen werden muss. Petrus schlägt eine großzügige Lösung vor: siebenmal zu verzeihen, wenn ein Bruder, eine Schwester, ein Nahestehender sich gegen mich versündigt hat.
Zweimal, dreimal vergeben, das ist schon viel. Petrus meint es sehr gut mit seinem Vorschlag. Und tatsächlich: Wem gelingt es schon, immer wieder zu verzeihen, vor allem, wenn es sich nicht um kleine Dinge, sondern um "große Brocken" handelt?
Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal, antwortet ihm Jesus. Im Klartext: Lass die Grenzziehungen! Beim Verzeihen darf es nur eine Grenze geben: Es soll grenzenlos sein. Weil dein "Bruder" immer wieder Fehler machen wird, musst du ihm immer wieder verzeihen. "Seid barmherzig!", fordert Jesus. Und er nennt zugleich das Maß für unsere Barmherzigkeit: "Wie unser himmlischer Vater barmherzig ist."
Nimm Maß an Gott, dann wirst du das rechte Maß finden. Ein Gleichnis soll das deutlich machen: Ein Mann schuldet dem König zehntausend Talente. Eine selbst für große Staatshaushalte gigantische Summe. Ein Talent sind 600.000 Denare. Ein Denar ist der durchschnittliche Tageslohn. Zehntausend Talente - das kann niemand zurückzahlen. Es steht in keinem Verhältnis zu den 100 Denaren, die der Kollege dem Großschuldner zurückzahlen muss. Mit den gleichen Worten bittet auch er um Geduld, er werde alles zurückzahlen. 100 Denare sind ja auch zu verkraften, 10.000 Talente sicher nicht.
Jesus zieht selber die Schlussfolgerung. Wenn ihr einander nicht verzeiht, dürft ihr von Gott keine Barmherzigkeit erwarten. Gottes Barmherzigkeit ist unvorstellbar groß. Sie ist grenzenlos und unbeschränkt. Meine Schuld vor Gott kann noch so groß sein, Gottes Verzeihen ist immer noch größer. Ich kann ihn selbst in auswegloser Schuld bitten, er wird mir nie sein Herz verschließen. Bei uns Menschen kommt einmal der Moment, wo wir sagen: Jetzt reicht es! Jetzt kann ich nicht mehr verzeihen. Wir glauben, es gehe wirklich nicht mehr, noch weiter vergebungsbereit zu sein.
Genau diese Grenze will Jesus sprengen. Verlangt er da nicht Unmögliches, Übermenschliches? Ja, in gewissem Sinn. Er erwartet von uns, dass wir uns wie Gott verhalten, der nie seinem Verzeihen Grenzen setzt. Wie soll ich das schaffen? Indem ich daran denke: Ich begehe täglich Fehler. Täglich bin ich darauf angewiesen, dass andere mich ertragen. Wehe mir, wenn ich das vergesse, wenn mein Herz hart wird und nicht mehr verzeihen will. Ein hartes Herz ist die einzige Grenze, die Gottes Barmherzigkeit beschränken könnte. Verzeihen kann sehr schwer sein. Gott gibt dazu die Kraft. Wer Seine Barmherzigkeit ahnt, kann nur selber barmherzig werden.
In jener Zeit trat Petrus zu Jesus und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal?
Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.
Mit dem Himmelreich ist es deshalb wie mit einem König, der beschloss, von seinen Dienern Rechenschaft zu verlangen. Als er nun mit der Abrechnung begann, brachte man einen zu ihm, der ihm zehntausend Talente schuldig war. Weil er aber das Geld nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kindern und allem, was er besaß, zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen.
Da fiel der Diener vor ihm auf die Knie und bat: Hab Geduld mit mir! Ich werde dir alles zurückzahlen. Der Herr hatte Mitleid mit dem Diener, ließ ihn gehen und schenkte ihm die Schuld.
Als nun der Diener hinausging, traf er einen anderen Diener seines Herrn, der ihm hundert Denare schuldig war. Er packte ihn, würgte ihn und rief: Bezahl, was du mir schuldig bist! Da fiel der andere vor ihm nieder und flehte: Hab Geduld mit mir! Ich werde es dir zurückzahlen. Er aber wollte nicht, sondern ging weg und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld bezahlt habe.
Als die übrigen Diener das sahen, waren sie sehr betrübt; sie gingen zu ihrem Herrn und berichteten ihm alles, was geschehen war.
Da ließ ihn sein Herr rufen und sagte zu ihm: Du elender Diener! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich so angefleht hast. Hättest nicht auch du mit jenem, der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?
Und in seinem Zorn übergab ihn der Herr den Folterknechten, bis er die ganze Schuld bezahlt habe. Ebenso wird mein himmlischer Vater jeden von euch behandeln, der seinem Bruder nicht von ganzem Herzen vergibt.