Es ist gut, sich so gekannt und verstanden zu wissen.
Es ist gut, sich so gekannt und verstanden zu wissen.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 4. Sonntag der Osterzeit, 7. Mai 2006,
(Joh 10,11-18)
Auf einem alten Photo aus meiner böhmischen Heimat sieht man eine große Schafherde. An einen Baum gelehnt steht der Hirte. Er strickt an einem langen Wollstrumpf. Neben ihm der Schäferhund.
Kaum ein Kind kennt heute diesen Anblick aus direktem Erlebnis. Im Fernsehen, aus anderen Ländern, sieht man vielleicht Schafhirten. In unseren Weinviertler Dörfern, in denen ich oft auf Pfarrbesuch bin, gibt es praktisch keine Kühe mehr, kaum Hühner, am ehesten Pferde. Auch das Bild vom Hirten und seinen Schafen ist fremd geworden.
Und doch glaube ich, dass die Worte Jesu vom guten Hirten uns direkt berühren. Oder geht es nur mir so? Ist es nicht so etwas wie ein "Urbild", das tief in der Seele verwurzelt ist? "Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen … und ich gebe mein Leben hin für die Schafe." Bei mir - und ich hoffe nicht nur bei mir - lösen dieses Wort und dieses Bild eine starke Sehnsucht aus. Es ist ein Bild großer Geborgenheit. Der Hirte, von dem Jesus spricht, denkt nicht nur an sich, sein Geschäft, seinen Gewinn. Für ihn ist Hirte-Sein nicht irgendein Job. Dieser Hirte ist anders.
Er ist vor allem mutig. Er traut sich was für die Seinen. Er schaut nicht tatenlos zu, wie die Herde vom Wolf angegriffen wird, in Panik auseinander rennt. Dieser Hirt verteidigt die Seinen und riskiert für sie sein Leben. Bei einem solchen Hirten weiß ich mich geborgen und beschützt, und danach sehnt sich wohl jeder.
Dieser Hirte ist nicht nur tapfer, er kennt auch die Seinen. Nicht irgendwie und oberflächlich, sondern wirklich. Er kennt und nennt mich beim Namen. Ich bin für ihn nicht einfach die Nummer X. Er weiß um mich, versteht, was in mir vorgeht, ohne dass ich es groß erklären muss. Er sieht es mir an, er weiß es "von innen her". So gekannt zu sein, könnte schlimm sein, wenn er mich kritisch und ablehnend durchschauen würde. Er kennt mich aber anders. Er kennt mich als der gute, sorgende Hirte. Es ist gut, sich so gekannt und verstanden zu wissen.
Noch etwas Besonderes hat dieser Hirte. Er hat "noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind". Auch für sie ist er da. Seine Sorge gilt nicht nur "uns", die zu "seinem" Stall gehören, sondern auch den fremden Schafen. Er ist nicht parteiisch, nur um die "Seinen" besorgt, denn im Grunde sind sie alle die Seinen und sollen alle einmal "nur eine Herde" unter "einem Hirten" bilden.
Ein schönes Traumbild? Jesus sagt, dass er das alles ist: "Ich bin der gute Hirte." Ist das glaubwürdig? Kann ich mich darauf einlassen? Papst Benedikt hat vor einem Jahr, als er sein Amt antrat, genau dazu eingeladen. Seine Worte bleiben mir unvergesslich: "Der wahre Hirte aller Menschen, der lebendige Gott, ist selber zum Lamm geworden, er hat sich auf die Seite der Lämmer, der Getretenen und Geschlachteten gestellt. Gerade so zeigt er sich als der wahre Hirte ... Nicht die Gewalt erlöst, sondern die Liebe … Wie oft wünschen wir, dass Gott sich stärker zeigen würde. Dass er dreinschlagen würde, das Böse ausrotten und die bessere Welt schaffen … Wir leiden unter der Geduld Gottes. Und doch brauchen wir sie alle … Die Welt wurde durch den Gekreuzigten und nicht durch die Kreuziger erlöst. Die Welt wird durch die Geduld Gottes erlöst und durch die Ungeduld der Menschen verwüstet."
Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe.
Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt sie und jagt sie auseinander. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und ihm an den Schafen nichts liegt.
Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für die Schafe. Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.
Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen.
Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen.
Diesen Auftrag habe ich von meinem Vater empfangen.