Ständig verurteilen wir.
Ständig verurteilen wir.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 5. Fastensonntag, 25. März 2007,
(Joh 8,1-11)
Ständig verurteilen wir. Jeden Tag in jeder Zeitung werden Menschen gerichtet. Oft zu Recht. Sie haben wirklich etwas angestellt. Sie haben sich schuldig gemacht. Milliarden verspekuliert. Andere umgebracht. Drogen gedealt. Oder die Ehe gebrochen. Aber das gilt heute eher als Kavaliersdelikt, ja als Zeichen dafür, dass man ein "moderner Mensch" ist. Damals zur Zeit Jesu war es ein todeswürdiges Verbrechen.
Oder wir verurteilen uns selber. Mögen uns nicht. Finden uns zu dick oder zu dünn, zu wenig schön oder gar hässlich. Halten uns selber für Versager und haben ja wirklich in Manchem versagt. Auf jeden Fall fühlen wir uns selber oft ungut in der eigenen Haut.
Wie geht Jesus mit dem Urteilen und Verurteilen um? So ein frommer, heiliger Mensch, der wird doch sicher alles Böses und alles Versagen noch viel strenger verurteilen. Und wenn er Gott ist, Gottes Sohn, dann richtet er gewiss ganz unerbittlich. Denn der "Himmelvater" sieht alles und weiß alles, und wird daher sicher niemandem etwas durchgehen lassen. Keiner kann ihm etwas vormachen. Über keinen von uns macht er sich Illusionen.
Wo wir also hinschauen, wohin wir uns auch wenden: Überall wird geurteilt, gerichtet und verdammt.
Mit einer Ausnahme. Heute begegnen wir ihr. In welcher Gestalt des Evangeliums von der Ehebrecherin finde ich mich wieder? In den Männern, die sie vor Jesus hinschleppen? Die von ihm ein Urteil fordern? Die diese Frau anklagen, weil sie auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt worden ist? Oder in der Frau, die von allen angegafft wird, auf die man mit Fingern zeigt, die die verächtlichen, verurteilenden Blicke auf sich spürt? Ich kann mich gut in beide Seiten hineindenken, denn ich spüre beide Positionen in mir: das Verurteilen anderer und Verurteiltwerden von anderen.
Jesus aber bückt sich. Er schaut keinen an. Er schreibt in den Sand (übrigens die einzige Stelle in den Evangelien, wo wir Jesus schreiben sehen). Er schreibt nichts fest. Er teilt nicht die verurteilenden Blicke der anklagenden Männer. Als diese nicht locker lassen, richtet er sich doch auf und sagt zu ihnen ein Wort, das seither sich wie ein Sprichwort in die Erinnerung eingegraben hat: "Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie."
Keine Verharmlosung des Ehebruchs, wie heute üblich. Kein Wegreden der Schuld. Im Gegenteil: Schau, wenn du andere - zu Recht - einer Schuld bezichtigst, immer auch auf deine eigene Schuld. Jesus klagt keinen an. Er richtet nicht und verurteilt nicht. Er zielt mein Gewissen an: Wie steht es mit dir selber? Wo ist deine Sünde? Wo hast du versagt? Keiner kann dieser Frage ausweichen. Alle lassen ihre Steine fallen und gehen …
So sind sie schließlich alleine: die Ehebrecherin und Jesus. "Hat dich also keiner verurteilt?" "Keiner!" Da sagt Jesus ihr das Wort, das wie kein anderes mich jedes Mal wie ein unfassbares Wunder trifft: "Auch ich verurteile dich nicht!" Wirklich, mein Gott, Du verurteilst mich nicht, gar nicht? Dann kann ich ja aufatmen und neu anfangen, und versuchen, treu zu sein, und von jetzt an nicht mehr zu sündigen …
Jesus aber ging zum Ölberg. Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es.
Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen.
Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.
Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten.
Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr.
Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!