Vieles erkennen wir nur stückweise, ahnen es, spüren es, aber haben es nicht im Griff. Wer von uns kann sagen: ich habe die Wahrheit voll erfasst, ich habe alles begriffen?
Vieles erkennen wir nur stückweise, ahnen es, spüren es, aber haben es nicht im Griff. Wer von uns kann sagen: ich habe die Wahrheit voll erfasst, ich habe alles begriffen?
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den Dreifaltigkeitssonntag, 3. Juni 2007,
(Joh 16,12-15)
Was ist Wahrheit? Diese berühmte Frage des Pontius Pilatus an Jesus kommt mir in den Sinn, wenn ich das Drama der Ehescheidung eines befreundeten Ehepaars erlebe. Nach fünfundzwanzig Jahren und vielem Auf und Ab in ihrer Ehe haben sie nun „das Handtuch“ geworfen. Wo liegt die Wahrheit? Höre ich ihm zu, so verstehe ich ihn. Höre ich ihr zu, so verstehe ich sie. Höre ich den Kindern zu, so gibt es mir einen Stich ins Herz.
Wo liegt die Wahrheit? Hat jeder von uns seine/ihre eigene Wahrheit? Ich sehe das eben so, und du siehst es anders? Der Scheidungsrichter muss sich zurechtfinden. Die Kinder auch. Und die Freunde. Wer hat recht, wer unrecht? Beide haben Fehler gemacht. Beide haben sich immer wieder bemüht. Beide wollten ernst nehmen, dass sie vor Gott verheiratet sind, „bis der Tod euch scheidet“. Jetzt scheidet sie der Richter. Sie stehen vor dem Scherbenhaufen ihrer Ehe. Mit Wunden rundum.
Was ist Wahrheit? Gibt es sie überhaupt? War das Eheversprechen nicht wahr? War das Ja-Wort nur ein „ja, vielleicht“? Nein, sie haben es wirklich so gemeint. Es war ernst und gültig. Heute ist alles in Frage gestellt. Ändert sich die Wahrheit im Lauf der Jahre? Gilt sie sozusagen nur „Lebensabschnittsweise“?
Jesus verspricht heute, dass er den „Geist der Wahrheit“ senden wird. „Der wird euch in die ganze Wahrheit führen.“ Es gibt sie also, die „ganze Wahrheit“. Aber Jesus sagt, wir können sie noch nicht ganz vertragen, ertragen. Noch ist sie zu schwer für uns. Und: Keiner hat von sich aus „die ganze Wahrheit“. Vieles erkennen wir nur stückweise, ahnen es, spüren es, aber haben es nicht im Griff. Wer von uns kann sagen: ich habe die Wahrheit voll erfasst, ich habe alles begriffen?
Kenne ich mich selber? Wie viel unbekannte Winkel gibt es in mir, in die ich noch nie hineingeschaut habe. In Krisenzeiten entdecke ich Seiten an mir, die ich nicht kannte. In einem Kirchenlied heißt es: „Noch manches Arge liegt in uns, das nur Dein Licht erhellen kann.“
Jesus hat den Heiligen Geist versprochen. Er wird uns auf dem Weg zur Selbsterkenntnis leiten. Er allein besitzt die ganze Wahrheit. Er wird uns Schritt für Schritt tiefer in die Wahrheit führen. Er wird uns helfen, uns besser zu verstehen, uns weniger selber zu täuschen. Könnte ich es jetzt schon ertragen, mich durch und durch zu erkennen? Was da alles an Selbsttäuschung, an Ungeklärtem in mir steckt, es wäre wahrscheinlich recht erschreckend, es plötzlich im grellen Licht der Wahrheit zu sehen.
Der Heilige Geist wirkt aber nicht wie der große Aufdecker. Er stellt nicht bloß. Er prangert nicht an. Wenn er uns zur Wahrheit führt, dann tut er es so, dass wir nicht wie Angeklagte dastehen. Er zeigt uns die Wahrheit liebevoll und geduldig. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, hat Jesus gesagt. Ja, sie macht frei, wenn sie uns nicht wie ein Prügel trifft, wie ein Todesurteil. Die Wahrheit befreit, wenn sie in Barmherzigkeit gesagt wird.
Wenn meine Freunde, deren Ehe zerbricht, es schaffen würden, einander die Wahrheit in Barmherzigkeit zu sagen, dann wäre die Ehe wohl zu retten. So wie es jetzt aussieht, kann ich nur hoffen und beten, dass der gute, tröstende und helfende Heilige Geist ihnen hilft, wieder aufeinander zuzugehen. So lange jeder auf „seiner Wahrheit“ beharrt und sie voll Schmerz und Zorn dem anderen entgegenhält, wird es beim Riss der Trennung bleiben. Wenn wir einmal nach dem Tod „drüben“ sein und im Licht Gottes „die ganze Wahrheit“ sehen werden, dann möge Gott mit uns barmherziger sein als wir es jetzt untereinander sind!
Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen.
Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird.
Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden.
Alles, was der Vater hat, ist mein; darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden.