Sie hat endlich die Liebe gefunden, die sie auf vielen Irrwegen gesucht hatte.
Sie hat endlich die Liebe gefunden, die sie auf vielen Irrwegen gesucht hatte.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 11. Sonntag im Jahreskreis, 17. Juni 2007,
(Lk 7,36-50)
Es ist eine der unglaublichsten Szenen im Evangelium. Man versuche sich das lebhaft vorzustellen. Wie wäre die Reaktion heute? Wie würde ich mich in einer solchen Situation verhalten?
Anschaulich wird die Szene geschildert. Jesus ist bei einem frommen Gläubigen zum Essen eingeladen. Im Orient lag man zu Tisch, auf Pölstern, nicht auf Stühlen sitzend. Auch nicht hinter verschlossenen Türen. Die Leute können hereinschauen, in das Esszimmer eintreten. Das tut auch eine stadtbekannte "Sünderin". Was war an ihrem Leben sündig? Der Text sagt es nicht, aber alle denken, was auch der Gastgeber dachte: eine Prostituierte, eine Dirne!
Jesus zeigt ihr gegenüber keine Abscheu, aber auch keine Zweideutigkeit. Sie aber verhält sich skandalös "ungeniert". Tut man das? Die Füße eines Mannes mit Tränen überschütten? Mit den langen, aufgelösten Haaren seine Füße abtrocknen? Vor allen Leuten seine Füße mit Küssen bedecken? Sie dann auch noch mit teurem, duftendem Öl zu salben? Tut man das? Und noch dazu vor allen Leuten! In der Intimität einer erotischen Beziehung vielleicht. Aber in aller Öffentlichkeit?
Doch was dem frommen Gastgeber noch mehr schockiert ist das Verhalten Jesu. Warum lässt er sich so berühren? Warum schickt er diese Frau nicht weg? Weiß er denn nicht, was für ein skandalöses Leben sie führt?
Jesus überrascht ihm mit einer Geschichte, die ihm klar macht, dass sein Gast seine kritischen Gedanken durchschaut hat: Zwei Schuldner, beiden wird die Schuld erlassen, dem einen eine große, dem anderen eine kleine. Wer ist wohl dankbarer?
Dann hält Jesus seinem Gastgeber einen peinlichen Spiegel vor: du hast mich zwar eingeladen, aber besonders herzlich warst du nicht. Diese Frau aber hat mir ihre ganze ungestüme, aber ehrliche Liebe gezeigt. Simon, siehst du nicht? Du bist zwar fromm, aber dein Herz ist karg und eng. Sie hat viel gesündigt, aber sie hat geliebt. Sie hat die Liebe gesucht und geschenkt. Ihr Herz mag in die Irre gegangen sein, aber es war weit und offen. "Deshalb sage ich dir: Ihr wurden ihre vielen Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat."
Eigentlich eine sensationelle Botschaft. Eine heftige Korrektur so vieler unserer Vorstellungen. "Wem wenig vergeben wird, der liebt wenig." Nimmt hier Jesus Partei für ein ungeordnetes, sündiges Leben? Sicher nicht. Aber es deckt die Selbstgefälligkeit der "Guten" auf, ihre Herzenshärte, ihr Urteilen über andere: Da schaut, diese Sünderin! Hinzeigen mit dem Finger! Im Herzen Verachtung hegen gegen die "Sünder"! Das zeigt Jesus als das Schlimmere.
Heißt das: wer viel sündigt, ist besser als der, der wenig sündigt? Sicher nicht! Umgekehrt ist es: diese Frau hat gespürt, dass Jesus ihr verzeiht. Sie weiß sich nicht verurteilt. Weil sie seiner Liebe begegnet ist, konnte sie bereuen und ihr ganzes Leben ändern. Sie hat endlich die Liebe gefunden, die sie auf vielen Irrwegen gesucht hatte.
Jesus ging in das Haus eines Pharisäers, der ihn zum Essen eingeladen hatte, und legte sich zu Tisch.
Als nun eine Sünderin, die in der Stadt lebte, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers bei Tisch war, kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl und trat von hinten an ihn heran. Dabei weinte sie, und ihre Tränen fielen auf seine Füße. Sie trocknete seine Füße mit ihrem Haar, küsste sie und salbte sie mit dem Öl.
Als der Pharisäer, der ihn eingeladen hatte, das sah, dachte er: Wenn er wirklich ein Prophet wäre, müsste er wissen, was das für eine Frau ist, von der er sich berühren lässt; er wüsste, dass sie eine Sünderin ist.
Da wandte sich Jesus an ihn und sagte: Simon, ich möchte dir etwas sagen. Er erwiderte: Sprich, Meister! (Jesus sagte:) Ein Geldverleiher hatte zwei Schuldner; der eine war ihm fünfhundert Denare schuldig, der andere fünfzig. Als sie ihre Schulden nicht bezahlen konnten, erließ er sie beiden. Wer von ihnen wird ihn nun mehr lieben? Simon antwortete: Ich nehme an, der, dem er mehr erlassen hat. J
esus sagte zu ihm: Du hast Recht. Dann wandte er sich der Frau zu und sagte zu Simon: Siehst du diese Frau? Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser zum Waschen der Füße gegeben; sie aber hat ihre Tränen über meinen Füßen vergossen und sie mit ihrem Haar abgetrocknet. Du hast mir (zur Begrüßung) keinen Kuss gegeben; sie aber hat mir, seit ich hier bin, unaufhörlich die Füße geküsst. Du hast mir nicht das Haar mit Öl gesalbt; sie aber hat mir mit ihrem wohlriechenden Öl die Füße gesalbt.
Deshalb sage ich dir: Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie (mir) so viel Liebe gezeigt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der zeigt auch nur wenig Liebe. Dann sagte er zu ihr: Deine Sünden sind dir vergeben.
Da dachten die anderen Gäste: Wer ist das, dass er sogar Sünden vergibt? Er aber sagte zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden!