Es bleibt ein unlösbares Rätsel, warum Gott manche Gebete nicht erhört. Oder nicht so, wie wir es uns erhoffen.
Es bleibt ein unlösbares Rätsel, warum Gott manche Gebete nicht erhört. Oder nicht so, wie wir es uns erhoffen.
Evangelienkommentar von Kardinal Schönborn
für den 29. Sonntag im Jahreskreis, 21. Oktober 2007,
(Lk 18,1-8)
Nichts kann sie abhalten. Woche für Woche stehen sie da, an bestimmten Plätzen, in Buenos Aires, in Santiago di Chile, in Moskau… Frauen, Witwen, Mütter. Sie haben Fotos in den Händen. Von ihren Männern, ihren Söhnen, die verschwunden sind, verschleppt, verhaftet - und nie mehr wieder aufgetaucht, verschollen in Gefängnissen, Lagern, in den Folterkammern der Diktatoren unserer Tage. Sie verlangen nur eines: Gebt sie uns zurück! Und wenn ihr sie ermordet habt, dann sagt uns die Wahrheit!
Sie haben keine Angst mehr. Sie lassen sich von keinem Geheimdienst schrecken. Hätte Jesus heute sie als Beispiel genommen, um vom Gebet zu sprechen, vom Bitten, das sich durch nichts entmutigen lässt? Sein Gleichnis spricht eine ähnliche Situation an, die damals wie heute in manchen Teilen der Welt bittere Wirklichkeit ist: Die Justiz ist korrupt, die Richter sind bestechlich. Recht bekommt, wer zahlen kann. Wer nicht "schmiert" und keine guten Beziehungen hat, wartet vergeblich auf sein Recht.
Unter den Rechtlosen sind die Witwen am Ärmsten dran. Sie haben keinen Schutz, sind hilflos, der Willkür ausgeliefert. Nicht umsonst befiehlt die Bibel des Alten Testaments so oft, die Witwen und die Waisen nicht zu unterdrücken. Das Gesetz des Mose sieht daher auch besondere Schutzbestimmungen vor, um Witwen und Waisen vor Ausbeutung und Unrecht zu bewahren.
Die Witwe in Jesu Gleichnis erlebt diesen Schutz nicht. Ein ungerechter Richter schert sich nicht um Gottes Gebot. Und vor den Menschen, die weniger Macht haben als er, hat er keinen Respekt. Vor den Mächtigeren "buckelt" er aber sicher! So hilft sich die Witwe selber. Wie die Frauen und Mütter der Verschollenen unserer Tage. Nur um endlich Ruhe zu haben gibt der Richter schließlich nach und spricht ihr ihr Recht zu. Wie auch die Frauen unserer Tage mit ihren unermüdlichen Forderungen (zum Teil) Erfolg hatten.
Aber ist das bei Gott auch so? Hört Er wirklich die, "die Tag und Nacht zu ihm schreien"? Jesus verspricht, Gott werde "ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen". Die Erfahrung spricht nicht immer dafür. Wie viele Kindergebete wurden nicht erhört! Hat Gott diese Tränen nicht beachtet? Sieht und hört Er sie nicht? Oder kann Er nicht, will Er nicht helfen?
Man sage nicht: Es wurde halt zu wenig gebetet! Es hat eben an Glauben gefehlt! Sonst hätte Gott die Gebete erhört! Sicher: Wir könnten immer mehr beten. Unser Glaube könnte stärker, fester sein. Aber welchen Schaden kann es anrichten, einem Kind, das für seine krebskranke Mutter gebetet hat, zu sagen: Hättest du mehr Glauben gehabt, fester gebetet, dann wäre deine Mama nicht gestorben. Nein, das kann es nicht sein! Es bleibt ein unlösbares Rätsel, warum Gott manche Gebete nicht erhört. Oder nicht so, wie wir es uns erhoffen.
Was bleibt dann zu tun? Wird Christus, wenn er wieder kommt, auf Erden noch Glauben vorfinden? So fragt Jesus selber. Und diese Frage müsste uns treffen. Heißt sie doch auch: Werden wir Menschen Ihm noch vertrauen? Ihm Glauben schenken? Werden wir Ihm vertrauen, auch wenn wir Sein Schweigen nicht verstehen? Die Frauen, die oft schon seit Jahren auf ihre Vermissten warten, haben ihre Kraft und Ausdauer letztlich aus dem Glauben, aus ihrem unerschütterlichen Gottvertrauen.
In jener Zeit sagte Jesus ihnen durch ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten:
In einer Stadt lebte ein Richter, der Gott nicht fürchtete und auf keinen Menschen Rücksicht nahm. In der gleichen Stadt lebte auch eine Witwe, die immer wieder zu ihm kam und sagte: Verschaff mir Recht gegen meinen Feind!
Lange wollte er nichts davon wissen. Dann aber sagte er sich: Ich fürchte zwar Gott nicht und nehme auch auf keinen Menschen Rücksicht; trotzdem will ich dieser Witwe zu ihrem Recht verhelfen, denn sie lässt mich nicht in Ruhe. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht.
Und der Herr fügte hinzu: Bedenkt, was der ungerechte Richter sagt. Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern zögern?
Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen.
Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, auf der Erde (noch) Glauben vorfinden?