Neujahrswunsch für uns alle: dass wir diesem sicheren inneren Kompass folgen
Neujahrswunsch für uns alle: dass wir diesem sicheren inneren Kompass folgen
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zur Lesung zu Silvester, 31. Dezemberr 2008
(Erster Johannesbrief 2, 18-21)
„Meine Kinder, es ist die letzte Stunde!“ So schreibt der alte Apostel Johannes an eine Christengemeinde des späten 1. Jahrhunderts. Die Kirche liest diese Worte am Silvestertag nicht weil es die letzten Stunden des alten Jahres sind. Er hat ein anderes Ende im Auge. Er wartet auf die Wiederkunft Christi und somit auf die „letzte Stunde“ der Geschichte, ihr Ende und den Anfang des endgültigen Reiches Gottes.
Wieder geht ein Jahr zu Ende, und bald 2.000 Jahre sind vergangen, seit der Apostel Johannes diese Zeilen geschrieben hat. Aber wiedergekommen ist Christus noch immer nicht. Dauert die „letzte Stunde“ schon so lange? Oder hatten die Christen der Anfangszeit falsche Vorstellungen, irrige Erwartungen? Haben wir uns inzwischen ganz gut auf Erden eingerichtet und vergessen, dass die Welt, in der wir leben, nur ein Durchgang ist, eine vorübergehende Bleibe, und dass wir Pilger auf Erden sind, unterwegs zur künftigen bleibenden Heimat?
„Letzte Stunde“, das meint weder das Ende des Jahres noch das Ende der Welt. Es geht vielmehr darum, dass wir vor letzte Entscheidungen gestellt sind, auch in den scheinbar kleinen Entscheidungen. Christus oder der Antichrist: Immer wieder stehen wir vor dieser Wahl. Neutral können wir als Staat bleiben, wie Österreich es in seiner Verfassung verankert hat.
Als Menschen können wir nicht neutral bleiben. In den großen und kleinen Entscheidungen geht es immer um eine letztliche Wahl zwischen Christus und dem antichristlichen Geist. Wie unterscheiden wir, wo der rechte Geist, wo der Ungeist am Werk ist? Woran erkennen wir beide?
Der Apostel Johannes gibt darauf eine überraschende Antwort. Er scheint ein ganz großes Vertrauen zu haben, dass seine Leute, die Christengemeinde, der er schreibt, das recht genau wissen: „Ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist (d. h. von Christus), und ihr alle wisst es.“ Man kann diese Stelle wohl genauer übersetzen: „Und ihr wisst alles.“ Denn gleich fügt er hinzu, er schreibe ihnen ja nicht deshalb, weil sie die Wahrheit nicht wüssten. Im Gegenteil: „Ihr wisst es!“ Und weiter unten sagt er: „Ihr braucht euch von niemand belehren zu lassen.“
Die Gläubigen sind mündig. Sie wissen, worum es geht. Man muss ihnen nicht alles vorschreiben. Sie haben selber genug Gespür, um zu wissen, was wahr und was falsch ist. Passt das zum gängigen Bild von der Kirche? Viele meinen, die Kirche bestehe vor allem aus (meist unverständlichen) Verboten und Vorschriften, und wer der Kirche gehorcht, muss seinen Verstand und sein eigenes Urteil sozusagen an der Kirchentüre abgeben.
Der Apostel Johannes sieht das ganz anders. Ja, es gibt genügend Leute, die die anderen von ihrer Meinung abhängig machen wollen. Meinungsmacher aller Art neigen dazu, ihre Macht zu missbrauchen und Menschen von ihrer „Meinungsmache“ abhängig zu machen. Gott will freie Menschen. Deshalb haben wir die Stimme des Gewissens und die Hilfe des Heiligen Geistes, um mit sicherem Gespür zu erfassen, was wahr und was Verführung ist.
Mein Neujahrswunsch für uns alle: dass wir diesem sicheren inneren Kompass folgen, uns nicht von jedem Wind der öffentlichen Meinung umwerfen lassen. Damit wir in dieser Entscheidungszeit den guten, den richtigen Weg finden.
Meine Kinder, es ist die letzte Stunde. Ihr habt gehört, dass der Antichrist kommt, und jetzt sind viele Antichristen gekommen.
Daran erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist. Sie sind aus unserer Mitte gekommen, aber sie gehörten nicht zu uns; denn wenn sie zu uns gehört hätten, wären sie bei uns geblieben.
Es sollte aber offenbar werden, dass sie alle nicht zu uns gehörten.
Ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und ihr alle wisst es.
Ich schreibe euch nicht, dass ihr die Wahrheit nicht wisst, sondern ich schreibe euch, dass ihr sie wisst und dass keine Lüge von der Wahrheit stammt.