Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?
Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium 12. Sonntag im Jahreskreis,
21. Juni 2009 (Mk 4,35-41)
Das Evangelium ist wirklich unerschöpflich. Immer können wir Neues in ihm entdecken, auch dann, wenn wir glauben, eine Stelle, eine Geschichte, ein Gleichnis Jesu schon sehr gut zu kennen. Mir geht es immer wieder so, dass ich vom Evangelium überrascht werde.
Dieser Tage las ich eine geistliche Auslegung des heutigen Evangeliums vom Seesturm, die mir eine solche „Neuentdeckung“ bescherte. Der Autor, der Jesuitenpater Jan Bots, schreibt zu unserer Evangelienstelle: „Wie kann Jesus im Sturm schlafen? Wir wissen nicht, was uns mehr staunen lässt, dass ihm sogar der Wind und die See gehorchen oder dass er in dem brausenden Sturm daliegen und schlafen kann“.
Das Bild des schlafenden Jesus mitten im Sturm, der das Boot fast zum Untergehen bringt: Es ist wirklich erstaunlich. Woher nimmt Jesus diese Ruhe? War er einfach so erschöpft von den Anstrengungen des Tages, den vielen Menschen, mit denen er zusammen war, die ihn mit ihren Sorgen und Nöten bedrängt hatten? Hatte Jesus einen „gesegneten Schlaf“, den kein Sturm stören konnte?
Das allein kann es nicht gewesen sein. Seine Ruhe hatte eine tiefere Quelle. Er nennt diese, er zeigt sie uns. Den völlig in Panik geratenen Aposteln (obwohl sie Fischer waren und so manchen Seesturm erlebt hatten) hält Jesus entgegen: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“
Sein Glauben ist die Quelle seiner Ruhe. Er ruht in Gott, seinem Vater. Er hat das tiefe Vertrauen, das nur eine feste Verwurzelung in Gott geben kann. Er weiß sich in der Hand des Vaters, und diese Geborgenheit lässt ihn selbst im wilden Gewoge des aufgewühlten Sees friedlich schlafen.
Pater Jan Bots gebraucht dafür einen sprechenden Vergleich. Stellen wir uns vor, in diesem Boot säße auch eine Mutter mit einem kleinen Kind im Arm: „Sie umfängt und wiegt es und hütet sich sorgfältig, ihr Kind etwas von ihren Sorgen spüren zu lassen. Bleibt die Mutter ruhig, wird das Kind keine Angst haben“.
Ist das nicht das Geheimnis jeder guten Erziehung? Die eigene Ruhe den Kindern mitzuteilen? Vor allem in der Glaubenserziehung geht es darum, die anderen an der eigenen Gottesbeziehung teilhaben zu lassen. Die Jünger erleben, wie Jesus in Gott seinem Vater ruht. Sie spüren, dass seine Gelassenheit nicht Gleichgültigkeit gegen Gefahren ist, sondern Geborgenheit in Gott. Das stärkt ihren noch schwachen, kleinen Glauben.
Solche Vorbilder brauchen wir. Den Glauben lernen wir nicht aus Büchern, sondern von Menschen, die die Ruhe, das Vertrauen, die Gottverbundenheit ausstrahlen. Ohne die Begegnung mit solchen Menschen könnte ich nicht glauben. Sie haben meinen Glauben geprägt, sie bleiben mir Vorbilder, an denen ich „ablesen“ kann, was Glauben bedeutet.
Ein solches Vorbild ist mir persönlich Papst Benedikt. Ich durfte bei ihm studieren, mit ihm zusammenarbeiten, seit 37 Jahren kenne ich ihn. Es gab viele Stürme, Aufregungen, Krisen, Sorgen. Immer wieder durfte ich ihn als einen Menschen erleben, der nicht in Panik gerät, Frieden und Freundlichkeit bewahrt. Ich glaube zu wissen, wo die Quelle seiner inneren Ruhe liegt.
Am Abend dieses Tages sagte er zu ihnen: Wir wollen ans andere Ufer hinüberfahren. Sie schickten die Leute fort und fuhren mit ihm in dem Boot, in dem er saß, weg; einige andere Boote begleiteten ihn.
Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm, und die Wellen schlugen in das Boot, so dass es sich mit Wasser zu füllen begann.
Er aber lag hinten im Boot auf einem Kissen und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?
Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich, und es trat völlige Stille ein.
Er sagte zu ihnen: Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?
Da ergriff sie große Furcht, und sie sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen?