Man meint, alles schon im voraus beurteilen zu können. Man lässt sich nicht überraschen.
Man meint, alles schon im voraus beurteilen zu können. Man lässt sich nicht überraschen.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium 14. Sonntag im Jahreskreis,
5. Juli 2009 (Mk 5,21-43)
Es muss ein bitterer Tag für Jesus gewesen sein: der Tag, als er, inzwischen schon berühmt und in aller Mund, wieder nach Nazareth zurückkam, auf Besuch in seiner Heimatstadt. Irgendwie waren sie schon stolz auf ihn, den Sohn ihrer Stadt, diesen Jesus, dessen Ruf und Ruhm sich überall herumsprach.
Aber gleichzeitig waren sie kritisch, ja feindlich eingestellt: Für wen hält er sich denn? Wir kennen ihn doch von Kindheit an. Wir kennen seine Familie, die ganze Verwandtschaft, die hier bei uns lebt. Glaubt dieser Jesus, er sei etwas Besseres?
Nirgendwo ist ein Prophet so wenig angesehen wie daheim! So fasst Jesus seine schmerzlichen Eindrücke zusammen. Dieses Wort ist zum Sprichwort geworden. Besonders bei uns in Österreich scheint es sich zu bewahrheiten. Mancher berühmte Österreicher war längst im Ausland bekannt, ehe man begann, ihn auch in der Heimat zu schätzen.
Warum diese Ablehnung Jesu gerade von den Leuten, die ihn am längsten kannten? Wohl deshalb, weil sie meinten, ihn zu kennen. Eben weil er „einer der Ihren“ war, konnten sie nicht glauben, dass er größer war als sie. Statt sich über die Gaben Gottes zu freuen, die in ihm so offensichtlich am Werk waren (sie geben es ja selber zu), stoßen sie sich daran, dass er nicht so ist wie sie.
Dieses heutige Evangelium macht mich nachdenklich über die Situation des Christentums in Europa, auch in Österreich. Zwar sind wir stolz auf unsere großen historischen Monumente, den Stephansdom und die Stifte, auf unser „Klösterreich“ und auf die schönen Landschaften, in denen so oft alte Kirchen einen malerischen Anblick bieten. Wir zeigen gerne unser christliches Erbe den Touristen und stellen es dar in schönen Hochglanzprospekten. Aber wie geht es denen, die an das glauben, was diese alten Kunstwerke darstellen? Wie fühlt sich heute einer, der voll und ganz zu seinem christlichen Glauben steht? Kommt er sich nicht bisweilen im heutigen Europa, in unserem Österreich wie ein Fremder vor?
Wie kommt es dazu? Wie kam es damals in Nazareth zu dieser massiven Ablehnung Jesu? Ich glaube, es zeigt sich hier die Macht der Vorurteile. Man glaubt, eh schon zu wissen. Man meint, alles schon im voraus beurteilen zu können. Man lässt sich nicht überraschen. Für alles gibt es schon ein fertiges Kastl, in das man den Anderen hineinstecken kann. Die Leute in Nazareth meinten, Jesus schon so gut zu kennen, dass sie ihn nur mit ihren vorgefassten Meinungen über ihn, seine Mutter und seine Verwandtschaft sehen konnten.
Ich habe oft den Eindruck, dass es mit dem Christentum auch bei uns so ist. Wie festgefahren sind da die Vorurteile! Wie schnell kommen daher die Vorverurteilungen. Sie sind gleich zur Hand, wenn einem etwas nicht passt. Vorurteile machen blind für Neues. Mit Freude stelle ich fest, dass immer mehr Menschen sich vom christlichen Glauben neu überraschen lassen. Sie entdecken Jesus, sie sehen ihn und die Kirche mit neuen Augen. Das fremdgewordene Christentum – ein Neuheitserlebnis!
Jesus kam in seine Heimatstadt; seine Jünger begleiteten ihn. Am Sabbat lehrte er in der Synagoge. Und die vielen Menschen, die ihm zuhörten, staunten und sagten: Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist! Und was sind das für Wunder, die durch ihn geschehen!
Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon? Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? Und sie nahmen Anstoß an ihm und lehnten ihn ab.
Da sagte Jesus zu ihnen: Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat, bei seinen Verwandten und in seiner Familie. Und er konnte dort kein Wunder tun; nur einigen Kranken legte er die Hände auf und heilte sie.
Und er wunderte sich über ihren Unglauben. Jesus zog durch die benachbarten Dörfer und lehrte.