Jedem von uns stellt Jesus die Frage: Und du, bist du denn ohne Sünde, der du auf andere zeigst?
Jedem von uns stellt Jesus die Frage: Und du, bist du denn ohne Sünde, der du auf andere zeigst?
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium am 5. Fastensonntag,
21. März 2010 (Joh 8,1-11)
Es ist für mich eine der bewegendsten Szenen im ganzen Evangelium. Und sie ist aktueller denn je zuvor. Denn wir leben in einer Zeit, in der es geradezu eine Epidemie geworden ist, andere anzuklagen, bloßzustellen, überall - nur nicht bei sich selber - den Schuldigen zu suchen.
Die Szene ist ganz anschaulich, gut zu vergegenwärtigen. Jesus ist in Jerusalem, im Tempel. Er spricht zu den Leuten, und eine große Menschenmenge hört ihm zu. Da entsteht plötzlich ein Wirbel, Unruhe. Männer schleppen eine Frau herbei, direkt vor Jesus hin. Anklage: Sie wurde bei frischer Tat ertappt. Ihr Vergehen: Ehebruch! Darauf steht im Gesetz: Todesstrafe durch Steinigung! Also, was sagst du? Du wirst doch nicht gegen das Gesetz des Mose sein!
Jesus schweigt. Er schreibt in den Sand am Boden. Was? Wir wissen es nicht. Es ist die einzige Stelle in den Evangelien, wo wir Jesus schreiben sehen. Kein Schriftstück ist von ihm erhalten, nur das, was seine Jünger aufgezeichnet haben.
Jesus schaut nicht auf. Während alle die Frau angaffen, auf sie zeigen, bückt Jesus sich und schaut auf den Boden. Schaut er weg von der Sünde? Will er nicht wahrhaben, dass sie eine Ehebrecherin ist? Als die Ankläger keine Ruhe geben, ihn bedrängen, er solle doch etwas sagen, richtet er sich auf und sagt ein Wort, dass bis heute nachhallt: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“.
Jesus verharmlost nicht den Ehebruch. Er sagt nicht, es sei keine Sünde. Er erinnert die Ankläger nur an ihre eigenen Sünden. Steinigt sie, wie das Gesetz des Mose es vorschreibt! Aber anfangen soll der unter euch, der selber ohne Sünde ist. Ihr klagt diese Frau an, sie habe Ehebruch begangen. Zweifellos eine schwere Sünde! Hast du noch nie gesündigt? Vielleicht sagst du: Ich habe nie die Ehe gebrochen! Auch nicht in Gedanken? Und du hast nie gelogen? Hast nie ein böses Wort gesagt? Hast dich nie ein bisschen zu viel „bedient“ bei Geld oder anderem? Und so weiter… Wer von euch ohne Sünde ist…
Einer nach dem anderen ging weg, zuerst die Ältesten. Jeder hat das Wort Jesu verstanden. Alle waren davon betroffen. Alle sind wir noch heute davon betroffen. Jedem von uns stellt Jesus die Frage: Und du, bist du denn ohne Sünde, der du auf andere zeigst?
Oft musste ich in diesen Wochen an das Wort Jesu denken, wo jetzt so viele Missbrauchsfälle bekannt werden. Verharmlost Jesus selber die Sünde? Keineswegs. Er hat schärfste Worte für die gefunden, die Ärgernis geben. Und eines der schlimmsten Ärgernisse ist der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch jemanden, der die Güte Gottes vermitteln sollte.
Jesus verharmlost das nicht. Aber er warnt uns alle davor, so zu tun als wären wir ohne Sünde. Jeder Missbrauchsfall ist zutiefst verabscheuungswürdig. Aber immer ist dabei auch eine Frage an jeden von uns: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein…
Bei Straftaten muss die Justiz handeln. Die Opfer verdienen allen Respekt und alle Hilfe. Und uns allen steht es gut an, an die eigene Brust zu klopfen. „Auch ich verurteile dich nicht“, sagt Jesus am Schluss der Ehebrecherin. Geh jetzt, und fang ein neues Leben an!
In jener Zeit ging Jesus zum Ölberg. Am frühen Morgen begab er sich wieder in den Tempel. Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es.
Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen.
Nun, was sagst du? Mit dieser Frage wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben, ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.
Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde.
Als sie seine Antwort gehört hatten, ging einer nach dem anderen fort, zuerst die Ältesten.
Jesus blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben? Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr.
Da sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!