Sein Vorbild lehrt uns das rechte Mitleid, und sein Geist, der Heilige Geist, legt es uns ins Herz, damit wir es selber leben und schenken können.
Sein Vorbild lehrt uns das rechte Mitleid, und sein Geist, der Heilige Geist, legt es uns ins Herz, damit wir es selber leben und schenken können.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium 10. Sonntag im Jahreskreis,
6. Juni 2010 (Lk 7,11-17)
Zwei Menschengruppen begegnen einander. Eine große Menschenmenge, an ihrer Spitze Jesus. Er geht auf das Stadttor von Nain zu, und hinter ihm die engsten Begleiter sowie eine beachtliche Schar. Eine zweite Menschengruppe bewegt sich in diesem Moment durch das Tor aus der Stadt heraus. Viele Leute, und an der Spitze die Leichenträger mit dem Toten, der nach damaligen Brauch offen auf der Tragbahre liegt: ein junger Mann. Dahinter weinend die Mutter. Eine Witwe, die ihren einzigen Sohn zu Grabe trägt, und mit ihm ihre ganze Hoffnung, ihre Sicherheit, ihre Altersversorgung (in einer Welt, in der es keine Krankenversicherung und keine Alterspension gab).
Wir brauchen nur ein bisschen über den Tellerrand Europas hinauszuschauen, um zu sehen, dass die Not dieser Witwe auch heute in vielen Teilen der Welt zur traurigen Wirklichkeit gehört. Tröstlich ist es, dass die Leute die arme Witwe nicht allein ließen, mit ihr trauerten, Mitleid hatten. Wie oft müssen bei uns Menschen einsam hinter dem Sarg eines lieben Verstorbenen gehen, weil keiner mittrauert, Anteil nimmt am Leid der Hinterbliebenen. In den armen Ländern ist man oft weniger alleine.
Als Jesus die Witwe sah, „hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht!“ Jesu Mitleid! Wie können wir es richtig erfassen? Im griechischen Originaltest des Neuen Testaments bedeutet dieses Wort: „Bis ins Innerste erschüttert sein“, ja ganz wörtlich: „bis in die Eingeweide ergriffen sein.“ Es geht also um eine tiefe Anteilnahme am Leid des Anderen. Im Hebräischen, das da dahinter steht, ist das noch stärker. Mitleid, Erbarmen, das wird mit dem Wort „Mutterschoss“ zum Ausdruck gebracht. Wie eine Mutter das Leid ihres Kindes mitfühlt, so ist Jesu Erbarmen mit der Not dieser armen Witwe.
Oft wird im Evangelium von Jesu Mitleid gesprochen. Und offensichtlich haben viele Menschen das damals bei Jesus gespürt: Er ist jemand, der in ganz starker Anteilnahme das Leid anderer mit empfindet, nicht davon weg schaut. Und dieses Erbarmen Jesu hat eine verändernde Kraft. Es ist nicht ein ohnmächtiges Zusehen, kein billiges Vertrösten.
Jesus geht hin, fasst die Bahre an. Der Leichenzug bleibt stehen. Mit einem Wort weckt er den toten jungen Mann auf und gibt ihn seiner Mutter zurück. Es ist nicht die einzige Totenerweckung, die Jesus vollbracht hat. Mindestens zwei weitere sind in den Evangelien festgehalten: das Töchterlein des Jaius und Jesu Freund Lazarus. Ich bin persönlich von der Glaubwürdigkeit dieser Berichte überzeugt. Ähnliche Wunder sind ja auch aus allen Jahrhunderten der Kirchengeschichte sicher überliefert.
Nun kann man freilich einwenden: so viele tragische Todesfälle, wo Mütter bitter weinen, oder Kinder um die Mutter. Wo bleibt da Jesu Erbarmen? Die Antwort ist nicht einfach. Aber es gibt sie. Jesu Erbarmen will ja nicht alleine bleiben. Er will es uns weitergeben. Es soll in unseren Herzen lebendig werden. Wo echtes Mitleid, ehrliche Anteilnahme gelebt wird, da sie das Erbarmen Jesu in unserer Welt gegenwärtig macht. Sein Vorbild lehrt uns das rechte Mitleid, und sein Geist, der Heilige Geist, legt es uns ins Herz, damit wir es selber leben und schenken können.
In jener Zeit ging Jesus in eine Stadt namens Nain; seine Jünger und eine große Menschenmenge folgten ihm.
Als er in die Nähe des Stadttors kam, trug man gerade einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie.
Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht! Dann ging er zu der Bahre und fasste sie an. Die Träger blieben stehen, und er sagte: Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf! Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen, und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück.
Alle wurden von Furcht ergriffen; sie priesen Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten: Gott hat sich seines Volkes angenommen. Und die Kunde davon verbreitete sich überall in Judäa und im ganzen Gebiet ringsum.