Jesus fragt nicht: „Wer ist der Nächste?“ Sondern: „Wem gegenüber verhalte ich mich als Nächster?“ Er geht vom Opfer aus, von dem, der Hilfe braucht.
Jesus fragt nicht: „Wer ist der Nächste?“ Sondern: „Wem gegenüber verhalte ich mich als Nächster?“ Er geht vom Opfer aus, von dem, der Hilfe braucht.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium 15. Sonntag im Jahreskreis,
11. Juli 2010 (Lk 10,25-37)
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Das steht in der Bibel. Schon im Alten Testament. Und Jesus hat es noch einmal deutlicher gemacht. Gott und den Nächsten lieben: in diesen zwei Geboten ist alles enthalten, was für ein gelungenes Leben wichtig ist. Liebe deinen Nächsten! Dieses Grundgebot kennt wohl auch heute noch (fast) jeder, auch wenn vielen die Bibel fremd geworden ist und nicht alle die Zehn Gebote auswendig aufsagen können.
Wer aber ist mein Nächster? Wie gut kann ich die Frage des Gesetzeslehrers verstehen, der etwas ratlos ist, vielleicht ganz ehrlich. Was heißt das: den Nächsten lieben? Ich kann mich doch nicht um zahllose Menschen kümmern! Nachbarn, Verwandte, Arbeitskollegen – alles „meine Nächsten“, nur weil ich mit ihnen irgendwie zu tun habe? Und dann die Vielen, die zwar ganz fern von mir leben, denen ich aber irgendwie „Nächstenliebe“ zeigen soll: die Erdbebenopfer in Haiti, die Blinden in Afrika, die Opfer von Tsunamis und Aids, die Straßenkinder in Moldawien usw. Für alles kommen Bitten: Hilf deinem Nächsten, der in Not ist“!
Jesus geht das Thema anders an: Sehr konkret und anschaulich. Er macht keine Theorie, gibt keine allgemeinen Anweisungen zur Nächstenliebe, sondern erzählt eine Geschichte. Hat er sie erfunden? Oder ist sie so passiert? Sie könnte auf jeden Fall genauso geschehen sein. Und Jesus erzählt sie so einprägsam, dass sie heute noch ihre starke Wirkung ausübt.
Ich brauche die Geschichte nicht nachzuerzählen. Nur einige erläuternde Hinweise. Der Weg von Jerusalem hinab nach Jericho, durch Wüstenschluchten, tausend Meter Höhendifferenz, galt zu Recht als gefährlich. Wieder einmal ereignet sich ein Raubüberfall. Zwei Geistliche, ein Priester und ein Levit, kommen denselben Weg, sehen den schwerverletzten Ausgeraubten, und wechseln die Straßenseite (so heißt es wörtlich) und eilen vorbei: Wie gut kennen wir das! Verständlich: Sie haben Angst, selber angegriffen zu werden. Nur weg und weiter!
Der Samariter ist ein Ausländer. Ein Fremder. Einer, der eine andere Religion hat und zu „den Feinden“ gehört. Er hätte noch mehr Grund, gleich weiterzueilen. Nur nicht „anstreifen“! Doch er tut das Gegenteil. Er unterbricht seine Reise, nimmt sich Zeit und rettet so wohl das Leben dieses Verwundeten. Bis hin zur Nachbetreuung sorgt er voll Mitleid, aber auch ganz professionell für ihn. So wie es heute viele, viele „Samariter“ tun, bei der Rettung, in Katastrophenhilfe oder einfach auf der Straße, zufällig, weil es nötig ist.
Wer ist mein Nächster? Jesus hat inzwischen die Frage völlig umgedreht: Wer hat sich als der Nächste des Ausgeraubten erwiesen? Die Antwort ist klar: der, der geholfen hat! Jesus fragt nicht: „Wer ist der Nächste?“ Sondern: „Wem gegenüber verhalte ich mich als Nächster?“ Er geht vom Opfer aus, von dem, der Hilfe braucht. War ich ihm gegenüber „der Nächste“? Der, der einfach geholfen hat, weil er Mitgefühl hatte? Fragen wir uns: Wann habe ich mich als „der Nächste“ erwiesen?
Da stand ein Gesetzeslehrer auf, und um Jesus auf die Probe zu stellen, fragte er ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?
Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort?
Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst.
Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und du wirst leben. Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen.
Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!