Ein Blick, in dem nichts von der Verachtung lag, mit der ihm die anderen begegneten, kein „von oben herab,“ kein Verurteilen.
Ein Blick, in dem nichts von der Verachtung lag, mit der ihm die anderen begegneten, kein „von oben herab,“ kein Verurteilen.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium 31. Sonntag im Jahreskreis,
31. Oktober 2010 (Lk 19,1-10)
Wenn Blicke einander begegnen, kann das zwei Leben verändern. Wir sprechen von „Liebe auf den ersten Blick.“ Einander in die Augen sehen, das kann trösten oder verletzen, aufrichten oder niedermachen. Solche Macht können Blicke haben! Im Blick kann so viel von der Seele zum Ausdruck kommen.
Welche Kraft muss der Blick Jesu gehabt haben! Als der Apostel Petrus Jesus verraten hatte, damals, in der Nacht der Gefangennahme, im Hof des Hohepriesters, da wandte sich Jesus um und sein Blick traf den des Petrus. Nie mehr konnte Petrus, so denke ich, diesen Blick vergessen. Er ging ihm durch und durch. In dem Blick Jesu lag keinerlei Verurteilung, keine Verachtung, keine Ablehnung, und gerade deshalb traf er Petrus so tief, dass er wegging, bitterlich weinend.
Zachäus begegnet dem Blick Jesu. Das ist der Kern dieses so berührenden, auch köstlichen Ereignisses, das der Heilige Lukas heute im Evangelium schildert. Es lohnt, sich die Szene plastisch vorzustellen.
In Jericho hat es sich herumgesprochen, dass der Wanderrabbi aus Galiläa mit einer ganzen Schar von Frauen und Männern, die ihn begleiten, auf dem Pilgerweg von Galiläa durchs Jordantal auch durch die Palmenstadt Jericho kommt, eher er nach Jerusalem hinaufzieht. Die Neugierigen drängen sich am Wegesrand. Nur einer findet keinen guten Sichtplatz: der reiche, kleinwüchsige Zachäus, der Obersteuereintreiber, einer der verhasstesten Männer des Landes. Recht geschieht es ihm, wenn er hier sich einmal nicht vordrängen kann. Die Leute lassen ihn ihre Verachtung spüren.
Aber er will Jesus sehen, unbedingt. Etwas in ihm ist stärker als alles Achten auf die eigene Würde und Wichtigkeit: seine Sehnsucht, diesen Jesus wenigstens sehen zu können. Und so tut er, was wohl kein Generaldirektor oder Oberboss (und wohl auch kaum ein Bischof!) heute tun würde: er kraxelt auf einen Maulbeerfeigenbaum und verschafft sich so die Sicht auf Jesus, die ihm die Leute verweigern.
Da hockt er nun in den Ästen, der Superreiche, und wartet…und dann kommt Jesus vorbei. Wie kam er auf die Idee, zum Baum hinaufzuschauen? Hat er geahnt, gespürt, gewusst, dass da einer in den Zweigen des Baumes hockt, der ihn unbedingt sehen wollte?
Zwei Blicke begegnen einander. Und was in diesen kurzen Momenten geschah, hat für immer das Leben des Zachäus verändert. Noch bevor Jesus ihn auffordert, schnell vom Baum herunter zu kommen hat sein Blick das suchende, wunde Herz des Zachäus getroffen. Ein Blick, in dem nichts von der Verachtung lag, mit der ihm die anderen begegneten, kein „von oben herab,“ kein Verurteilen.
Jesus ist bei Zachäus eingekehrt. Ausgerechnet bei diesem verachteten und (zu Recht) gefürchteten Steuereintreiber! Alles Weitere ist Folge dieses Blickes Jesu: Zachäus ändert sein Leben. Er bemüht sich, das Unrecht wieder gut zu machen, das er anderen angetan hat.
Was Blicke bewirken können! Eines sagt uns allen dieses Evangelium: So sieht Jesus auch mich an! Welche Hoffnung!
In jener Zeit kam Jesus nach Jericho und ging durch die Stadt.
Dort wohnte ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war sehr reich. Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei, doch die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht; denn er war klein. Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste.
Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.
Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf.
Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt. Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.
Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.