Blick zum Himmel auf, von wo dir in allen Seufzen und Mühen Hilfe kommt.
Blick zum Himmel auf, von wo dir in allen Seufzen und Mühen Hilfe kommt.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium am 23. Sonntag im Jahreskreis,
9. September 2012 (Mk 7,31-37)
Leid kann verschlossen machen. Behinderung kann ausgrenzen. Von beiden Seiten her: die "Gesunden" vermeiden den Kontakt zu den Behinderten. Und diese fühlen sich ins Abseits gestellt. Haben sie einen Platz in einer Gesellschaft, in der Fitsein, Erfolg, Gesundheit die obersten Werte sind? Der Trend geht immer mehr dahin, Behinderte erst gar nicht zur Welt kommen zu lassen. Mit allerlei Tests kommt man schon während der Schwangerschaft möglichen oder wirklichen Behinderungen auf die Spur. Die Folge ist dann, nur allzu oft, die Abtreibung.
Aber wir dürfen die früheren Zeiten nicht idealisieren. Behinderte hatten immer schon einen schweren Stand, wurden schlecht behandelt, versteckt; man schämte sich ihrer und schloss sie vom Zusammenleben aus.
Immer schon gab es aber auch Menschen, die Mitleid hatten, die nicht wegschauten, die die Behinderten leben ließen und sie in ihre Leben einbezogen. Von solchen Menschen ist heute im Evangelium die Rede. Es sind die, die den Taubstummen zu Jesus bringen mit der Bitte, "er möge ihn berühren".
Ich denke dankbar an die vielen Menschen, die heute ebenso handeln. Ich denke an Eltern, die ihr behindertes Kind liebevoll und geduldig begleiten; an Geschwister, die ihre behinderte Schwester, ihren Bruder annehmen; an die Vielen, die in der Betreuung tätig sind, mit Aufmerksamkeit, Offenheit, Zuwendung und beruflicher Kompetenz. Ihnen allen verdanken wir, dass in unserer Gesellschaft Menschen mit Behinderungen ihren Platz haben.
Jesus gibt heute im Evangelium ein berührendes Beispiel liebevoller Zuwendung zu einem Behinderten. Er nimmt den Taubstummen beiseite, weg von der Menge, um sich nur ihm widmen zu können, und um ihn vor der Neugierde der Leute zu schützen. Er berührt ihn körperlich, direkt ohne Scheu. Er zeigt ihm Anteilnahme an seinem Leid, lässt sich wirklich davon "berühren". Wir wissen, wie wichtig ein unzweideutiger, herzlicher Körperkontakt sein kann: das Händehalten eines Kranken, die Umarmung eines Trauernden. Wie wohl tun solche Zeichen echter Zuwendung in Zeiten des Leidens.
Jesus wendet sich aber nicht nur dem Behinderten zu, sondern stellt auch die Verbindung "zum Himmel" her. Sein Aufblicken zum Himmel und sein Seufzen sind Ausdruck des Gebets, der Fürbitte für den Behinderten. Er bringt Gott ins Spiel, von dem er Hilfe und Heilung erwartet und erhält.
"Öffne dich!" sagt er zum Taubstummen und heilt ihn. "Öffne dich!" sagt er auch uns. Öffne dein Herz für die Behinderten. Morgen schon kannst du einer von ihnen sein und im Rollstuhl sitzen. Die Offenheit für die Not anderer, die du heute lebst, möchtest du dann auch dir gegenüber erleben. Blick zum Himmel auf, von wo dir in allen Seufzen und Mühen Hilfe kommt. Dann werden sich auch dir die Ohren, der Mund und vor allem das Herz öffnen.
In jener Zeit verließ Jesus das Gebiet von Tyrus wieder und kam über Sidon an den See von Galiläa, mitten in das Gebiet der Dekapolis.
Da brachte man einen Taubstummen zu Jesus und bat ihn, er möge ihn berühren. Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit Speichel; danach blickte er zum Himmel auf, seufzte und sagte zu dem Taubstummen: Effata!, das heißt: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit, und er konnte richtig reden.
Jesus verbot ihnen, jemand davon zu erzählen. Doch je mehr er es ihnen verbot, desto mehr machten sie es bekannt.
Außer sich vor Staunen sagten sie: Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen.