Aber eines weiß ich: Ich kann zu Jesus rufen!
Aber eines weiß ich: Ich kann zu Jesus rufen!
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium am 30. Sonntag im Jahreskreis,
28. Oktober 2012 (Mk 10,46-52)
Ein blinder Bettler! Ein Mann, der zum Bettler wurde, weil er blind war. Weil ihm keine andere Möglichkeit offen stand, als zu betteln um zu überleben. Wer in armen Ländern war, hat sie gesehen, wenn er die Augen offen hatte und nicht einfach weggeschaut hat: die blinden Bettler. Sie gehören zum Straßenbild der sogenannten "unterentwickelten Länder".
Man muss schon sehr abgebrüht sein, hier, bei diesem Anblick nicht Mitleid zu empfinden. Wir aus den wohlhabenden Ländern empfinden freilich leicht auch unsere Ohnmacht. Selbst wenn wir einem blinden Bettler ein Almosen geben, was hilft das für so viele?
Was können wir schon tun? Der Hilferuf der Armen ist lästig. Die Gesichter hungernder Kinder auf Caritasplakaten wirken wie ein Vorwurf. Ich kann die Leute in Jericho gut verstehen, die den laut schreienden Bartimäus zum Schweigen bringen wollen. Er stört die Gesunden, die Anderen, denen nichts fehlt und die nur aus Neugierde den berühmten Rabbi aus Nazareth sehen wollen, der gerade durch ihre Stadt kommt, auf seinem Pilgerweg von Galiläa hinauf nach Jerusalem.
Aber der Sohn des Timäus schreit noch lauter. Er schreit seine Not mit aller Kraft hinaus: Hab Erbarmen mit mir! Er ruft Jesus beim Namen und nennt ihn "Sohn Davids", voller Hoffnung, dass er auch an ihm ein Wunder tut, wie an so vielen anderen. Sein Ruf hatte sich ja im ganzen Land verbreitet, und viele hofften, von ihm geheilt zu werden.
"Ruft ihn her!" Jesus hat sein Schreien gehört und sich davon berühren lassen. Nun kommt der Blinde, läuft zu Jesus hin. "Was soll ich dir tun?" Auf diese Frage Jesu ist die Antwort nicht überraschend: "Rabbuni, das heißt lieber Meister, ich möchte wieder sehen können!" Und Jesus schenkt ihm das Augenlicht wieder, das er durch eine der bis heute verbreiteten Augenkrankheiten verloren hatte.
Ich liebe diese Szene des Evangeliums. Sie ist so anschaulich und lebensnah. Man kann sie sich gut vorstellen. Deshalb wird die Geschichte des Bartimäus auch gerne von Kindern gespielt. Irgendwie ist es meine eigene Geschichte. Und vielleicht auch die von so manchen Lesern.
Man kann auch anders als dieser Bartimäus in Not geraten. Das muss nicht eine Erkrankung sein, die einen abhängig macht. Es gibt Situationen, in denen auch ich rufe: Jesus, hab Erbarmen mit mir! Vielleicht traue ich mich nicht, es so laut und aufdringlich zu schreien wie der Blinde von Jericho. Aber eines weiß ich: Ich kann zu Jesus rufen! Ich kann ihn um sein Erbarmen, seine Hilfe bitten. Ich kann zu ihm kommen mit all meiner Not. Er will nur, dass ich ihm sage, was ich will, und das ist immer möglich.
Und noch etwas kann ich tun: Hinhören, hinschauen, wenn andere in ihrer Not um Gottes Erbarmen rufen, wie Bartimäus!
In jener Zeit als Jesus mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß an der Straße ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus.
Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!
Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!
Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.
Und Jesus fragte ihn: Was soll ich dir tun? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte wieder sehen können.
Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dir geholfen. Im gleichen Augenblick konnte er wieder sehen, und er folgte Jesus auf seinem Weg.