Nimm die Liebe weg - und nichts mehr im Leben stimmt.
Nimm die Liebe weg - und nichts mehr im Leben stimmt.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium am 31. Sonntag im Jahreskreis,
4. November 2012 (Mk 12,28b-34)
Was ist das Wichtigste im Leben? Die Frage wird oft gestellt. Befragungen für "Wertestudien" wollen wissen, was den Menschen heute wertvoll und heilig ist. Dabei wird meist nach dem gefragt, was wir am liebsten haben möchten, was wir vor allem für uns selber haben wollen. "Was wünschen Sie sich am meisten im Leben?" – So etwa kann die Frage eines Meinungsforschungsinstitutes lauten.
Wir kennen den Katalog möglicher, ja wahrscheinlicher Antworten: Geld spielt sicher in der Wunschliste eine wichtige Rolle. Gesundheit mindestens ebenso, wenn nicht noch mehr. Ein gutes Leben, Sicherheit, Harmonie, Familie – all das findet sich im Katalog dessen, was wir uns im Leben wünschen. Und natürlich Liebe. Wer will nicht geliebt werden? Niemand Normaler wünscht sich, gehasst und abgelehnt zu werden.
Der Schriftgelehrte, der zu Jesus kommt, hat aber einen anderen Zugang. Er fragt nicht nach dem, was er haben könnte, was er bekommen möchte, sondern nach dem, was er tun soll. Er fragt nicht nach Rechten, sondern nach Pflichten. Nicht nach Geschenken, sondern nach Aufgaben: "Welches Gebot ist das Erste von allen?"
So lade ich zuerst dazu ein, dass wir versuchen, diese Perspektive einzunehmen, uns einmal so zu fragen: "Was muss ich tun?" Was ist das Wichtigste unter allen Aufgaben und Verpflichtungen in meinem Leben? Ich glaube, es ginge unserer Gesellschaft besser, wenn wir unsere Lebenserwartungen so einstellen, notfalls umstellen: Was ist meine wichtigste Lebensaufgabe? Was ist das größte Gebot?
Die Antwort Jesu ist völlig klar und einfach: Gott ganz lieben, und ebenso den Nächsten! Tust du das, dann hast du alles Wesentliche getan, alles, worauf es im Leben ankommt.
Was aber heißt das ganz praktisch: Gott mit allen Kräften, mit allen Sinnen, aus ganzem Herzen lieben, und den Nächsten lieben wie dich selbst? Ich glaube, das sehen wir am ehesten, wenn wir auf die Nächstenliebe schauen. Es gibt viele Tugenden, die zu einem guten Miteinander gehören: Gerechtigkeit, Geduld, Klugheit, Fleiß, Güte, Ausdauer und vieles andere noch. Aber machen wir den Test: Nehmen wir aus allen diesen Haltungen die Liebe weg, was bleibt dann davon übrig?
Was ist eine lieblose Gerechtigkeit? Sie wird zum Unrecht, zur Härte und Herzlosigkeit! Was ist Geduld ohne Liebe? Eine Art Wurstigkeit, die den anderen nicht ernst nimmt! Was ist Klugheit ohne Liebe? Höchstens Schlauigkeit, die den anderen über den Tisch zieht! Was Fleiß ohne Liebe? Ein sich Abrackern ohne Freude! Was ist Güte ohne Liebe? Weiche Nachgibigkeit, die keinem hilft! Was Ausdauer ohne Liebe? Verbissenheit, ja Verbohrtheit!
Nimm die Liebe weg - und nichts mehr im Leben stimmt. Sie allein gibt allem das rechte Maß, die Lebendigkeit, die Freude. Auf sie kommt alles im Leben letztlich an. Und jetzt wenden wir alles Gesagte auf unser Verhältnis zu Gott an. Dann ist das Leben ganz im Lot.
In jener Zeit ging ein Schriftgelehrter zu Jesus hin und fragte ihn: Welches Gebot ist das erste von allen?
Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.
Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.
Da sagte der Schriftgelehrte zu ihm: Sehr gut, Meister! Ganz richtig hast du gesagt: Er allein ist der Herr, und es gibt keinen anderen außer ihm, und ihn mit ganzem Herzen, ganzem Verstand und ganzer Kraft zu lieben und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist weit mehr als alle Brandopfer und anderen Opfer.
Jesus sah, dass er mit Verständnis geantwortet hatte, und sagte zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes.
Und keiner wagte mehr, Jesus eine Frage zu stellen.