Und das ist kein Märchen, sondern wirkliche Geschichte.
Und das ist kein Märchen, sondern wirkliche Geschichte.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium am 2. Adventsonntag,
9. Dezember 2012, (Lk 3,1-6)
Märchen beginnen meistens mit den Worten "Es war einmal…" Dann folgt aber keine genaue Zeitangabe. Für ein Märchen ist das auch nicht wichtig: Irgendwann einmal… Märchen erzählen Geschichten, und das ist das Schöne an ihnen.
Für das Märchen ist es unwichtig, wann und wo die Geschichte stattgefunden hat, ja nicht einmal ob sie sich tatsächlich zugetragen hat. Ein Märchenbuch ist kein Geschichtsbuch, sondern ein Buch mit Geschichten.
Anders ist es mit dem Evangelium. Wenn es am Sonntag im Gottesdienst verlesen wird, beginnt es meist mit den Worten: "In jener Zeit…" Zwar erzählen auch die Evangelien Geschichten von Menschen, vor allem von Jesus selber. Aber es sind keine Märchen, sondern wirklich Geschehenes, Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben, für die es genügend Zeugen gibt, die sie miterlebt und glaubwürdig weitererzählt haben.
In diesem Kirchenjahr, das vor einer Woche mit dem ersten Adventsonntag neu begonnen hat, wird jeden Sonntag ein Abschnitt aus dem Lukasevangelium verlesen. Nun war gerade Lukas nicht selber Augenzeuge der Ereignisse, von denen er berichtet. Er war von Beruf Arzt, kein Jude, sondern Grieche, also "Heide". Zum Glauben an Jesus Christus und zur Taufe kam er wahrscheinlich durch Paulus. Lukas war zudem ein leidenschaftlicher Historiker. Er ist, wie er selber sagt, "allem von Grund auf sorgfältig nachgegangen", um zuverlässig zu berichten, was sich mit Jesus von Nazareth zugetragen hat.
Dazu hat er schon vorhandene Berichte benützt, vor allem aber die Augenzeugen befragt, die Jesus erlebt hatten. Unter ihnen hat wohl die Mutter Jesu einen besonderen Platz gehabt. Sie war die erste Zeugin. Sie wusste, wie es ganz am Anfang war, die Empfängnis Jesu, seine Geburt, seine Kindheit und Jugend. Lukas verdanken wir das Weihnachtsevangelium, das am Heiligen Abend gelesen wird, von Jesu Geburt in Bethlehem.
Für Lukas ist es wichtig, zu zeigen, dass er keine Märchen erzählt, sondern Geschichte, die sich tatsächlich ereignet hat. Feierlich nennt er den genauen Zeitpunkt, an dem Johannes der Täufer sein Wirken in der Jordangegend begann: "Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius", also im Jahr 28 unserer Zeitrechnung.
Was hat Lukas damit sagen wollen? Warum ist ihm diese genaue Zeitangabe so wichtig? Ich sehe vor allem zwei Anliegen: Gott handelt mitten in der großen Weltgeschichte. Der mächtige Kaiser in Rom wusste sicher nichts von dem Prediger in der Wüste, beim Jordan. Aber was dort geschah, hat weltgeschichtliche Bedeutung: Johannes bereitet dem Herrn den Weg. Zu allen Menschen soll das Heil gelangen. Damals hat es begonnen. Damals ist Jesus gekommen.
Und ein Zweites: auch in meinem Leben gibt es solche genauen Daten, von denen ich sagen kann: Damals, in jenem Jahr, an diesem Tag, zu dieser Stunde habe auch ich erlebt, dass Gott in meinem Leben einen Weg für sein Kommen geöffnet hat. Und das ist kein Märchen, sondern wirkliche Geschichte.
Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius; Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrarch von Galiläa, sein Bruder Philippus Tetrarch von Ituräa und Trachonitis, Lysanias Tetrarch von Abilene; Hohepriester waren Hannas und Kajaphas.
Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias. Und er zog in die Gegend am Jordan und verkündigte dort überall Umkehr und Taufe zur Vergebung der Sünden.
(So erfüllte sich,) was im Buch der Reden des Propheten Jesaja steht: Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen! Jede Schlucht soll aufgefüllt werden, jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden. Und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt.