Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 13. Juli 2014
Jeden Tag, wenn ich in der Früh das Morgengebet der Kirche bete, die sogenannte Laudes, kommt eine Stelle, die mich besonders berührt. Die "Laudes" beginnt immer mit einem Psalm aus der Bibel des Alten Testaments, dem Psalm 95. Er ist eine Einladung, Gott gemeinsam zu loben: "kommt, lasst uns jubeln vor dem Herrn… Lasst uns mit Lob seinem Angesicht nahen…" Es folgt ein Dank an den Schöpfer für alle seine Werke, "die Tiefen der Erde, die Gipfel der Berge, das Meer und das trockene Land". Dann aber heißt es, und das bewegt mich jeden Morgen ganz besonders: "Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!" Zwei Dinge liebe ich an dieser Stelle des Psalms: Das "Heute" und die Bitte, dass das Herz nicht hart werde! Mit diesem "Heute" beginnt der Tag. Er ist noch frisch und neu. Ich weiß nicht, was er mir alles bringen wird. Ich weiß nur, dass ich darum bitten muss, nicht harten Herzens diesen Tag zu "erledigen". Ich bitte Gott um ein offenes Ohr und ein hörendes Herz, damit ich wirklich seine Stimme im Gewirr des Alltags nicht überhöre.
Alles das fällt mir ein beim Hören des heutigen Evangeliums. Denn die Geschichte mit dem Sämann, die Jesus seinen Zuhörern vom Boot aus erzählt, verstehe ich ganz im Licht meines Morgengebets, meiner täglichen Erfahrung: "Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen." Er sät auf eigenartige Weise. Zum Teil fallen die Samenkörner auf den Weg, zum Teil auf felsigen Boden, wieder anderer Teil fällt unter Dornengestrüpp. Nur ein Teil fällt auf guten, sehr guten Boden und bringt überreiche Frucht.
Jesus selber hat seinen Jüngern erklärt, was er mit diesem Gleichnis sagen will. Der Sämann ist er, Christus selber. Der Samen ist sein Wort. Und er sät es dem Menschen ins Herz. Das Herz also ist der Boden, auf den Gott sein Wort sät. Und je nachdem wie das Herz beschaffen und bereit ist, wird die Saat aufgehen oder verdorren.
Genau an das muss ich jeden Morgen denken, wenn ich die Worte des Psalms bete: "Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht!" Und ich frage mich: Was für ein Boden wird heute mein Herz sein? Werde ich "seine Stimme" hören, in den Ereignissen meines Tages, in den Begegnungen mit Menschen, in den Freuden und Sorgen, die ich heute erleben werde? Wird mein Herz wach sein, um aufnehmen zu können, was mir an Sorgen anvertraut wird? Werden die Dornen der Alltagsbelastung meine Aufmerksamkeit ersticken? Werde ich die nötige Zeit zur Stille, zur Besinnung, zum Gebet finden, um über das nachzudenken, was Gott mir heute sagen möchte?
Ich habe mich oft gefragt: Was will Jesus mit diesem Sämanns-Gleichnis sagen? Warum streut der Sämann sein kostbares Saatgut so scheinbar unvorsichtig aus? Die Saat gehört doch nicht auf den Weg, auf steinigen Boden, unter Dornengestrüpp. Jeder kluge Bauer sät nur auf guten, ertragreichen Boden.
Aber wenn es stimmt, dass Jesus hier vom Herzen des Menschen spricht, dann macht das Gleichnis Sinn. Denn Gott gibt jedem die Chance, er bietet allen sein Wort an. Er will alle ansprechen. Die Frage ist nur: Sind wir ansprechbar? Oder sind die Ohren unseres Herzens verstopft? Ist der Boden unseres Herzens hart und unfruchtbar geworden? Wehe den harten Herzen! Aber wie viel Gutes kann wachsen, wenn Gottes Wort in ein offenes Herz gesät wird!
An jenem Tag verließ Jesus das Haus und setzte sich an das Ufer des Sees. Da versammelte sich eine große Menschenmenge um ihn. Er stieg deshalb in ein Boot und setzte sich; die Leute aber standen am Ufer. Und er sprach lange zu ihnen in Form von Gleichnissen. Er sagte: Ein Sämann ging aufs Feld, um zu säen. Als er säte, fiel ein Teil der Körner auf den Weg, und die Vögel kamen und fraßen sie. Ein anderer Teil fiel auf felsigen Boden, wo es nur wenig Erde gab, und ging sofort auf, weil das Erdreich nicht tief war; als aber die Sonne hochstieg, wurde die Saat versengt und verdorrte, weil sie keine Wurzeln hatte. Wieder ein anderer Teil fiel in die Dornen, und die Dornen wuchsen und erstickten die Saat. Ein anderer Teil schließlich fiel auf guten Boden und brachte Frucht, teils hundertfach, teils sechzigfach, teils dreißigfach. Wer Ohren hat, der höre!