"Wir brauchen eine größere Gerechtigkeit als nur die Zehn Gebote", so Kardinal Christoph Schönborn.
"Wir brauchen eine größere Gerechtigkeit als nur die Zehn Gebote", so Kardinal Christoph Schönborn.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 16. Februar 2014.
Die Zehn Gebote geben dem Leben Halt. Sie enthalten die Grundregeln für ein gutes Zusammenleben. Denken wir nur an die Gebote fünf bis acht: Du sollst nicht töten; du sollst nicht die Ehe brechen; du sollst nicht stehlen; du sollst kein falsches Zeugnis geben (das heißt: nicht lügen). Diese schlichten, klaren Weisungen sollen das Leben der Menschen erträglich, ja erfreulich machen. Auch wenn sie als Verbote formuliert sind, haben sie doch einen positiven Inhalt: Sie schützen den Einzelnen und die Gesellschaft.
Dafür gibt es eine einfache Gegenprobe: Bei uns nehmen die Diebstähle und Einbrüche erschreckend zu. Wo ist es besser zu leben? Dort, wo das siebte Gebot ("Du sollst nicht stehlen") eingehalten wird – oder wo hemmungslos gestohlen wird? Wer möchte schon gerne belogen werden? Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit sind nicht immer leicht, aber es ist sehr viel angenehmer, mit ehrlichen Menschen zusammenzuleben als mit verlogenen.
Und wo lebe ich lieber? In einer bekannten Stadt der USA, wo täglich im Durchschnitt vier Morde geschehen – oder in einer Stadt, in der ich unbesorgt, weil ungefährdet, in den Straßen spazieren gehen kann?
Die Zehn Gebote sind schlicht und einfach Wegweiser zu einem halbwegs glücklichen Zusammenleben. Sie sichern die wichtigsten Lebensbereiche und schützen sie vor Missbrauch: die Beziehungen zwischen den Generationen (das vierte Gebot: "Du sollst Vater und Mutter ehren…"), den Schutz des Lebens, die Treue von Mann und Frau, den Schutz des Eigentums und das Vertrauen in die Ehrlichkeit. Warum "funktionieren" sie oft nicht? Warum wird trotz der Zehn Gebote so viel gelogen und gestohlen, die Ehe gebrochen und sogar getötet?
Darauf gibt Jesus im heutigen Evangelium eine klare Antwort: Es braucht ein bisschen mehr als nur die Zehn Gebote, damit wenigstens die Zehn Gebote eingehalten werden. Jesus sagt: Wir brauchen eine größere Gerechtigkeit als nur dieses Minimum der Zehn Gebote. Oft habe ich den Spruch gehört: Ich hab' ja niemanden umgebracht! Gut so, Gott sei Dank! Aber genügt das? Jesus sagt klar: Das ist zu wenig! Und er erklärt auch, warum es nicht ausreicht. Dafür gibt er drei Beispiele: Zuerst das fünfte Gebot: Gewiss, du sollst nicht jemanden umbringen, und die meisten von uns halten sich ja daran. Aber sagen wir nicht auch: Wenn Blicke töten können…? Und wie oft ist der Zorn, ein böses Wort in Wut gesprochen, etwas tief Verletzendes? Der Hass wird im Herzen geboren und bringt seine oft tödlichen Früchte hervor.
Auch beim sechsten Gebot geht Jesus an die Wurzel des Ehebruchs. Er beginnt in den Blicken, den Gedanken, noch lange bevor er zur Tat des Ehebruchs wird.
Als drittes Beispiel nennt Jesus das achte Gebot. Der Meineid ist die extreme Form der Lüge, zu Recht auch im staatlichen Strafrecht streng geahndet. Aber ehe es zu einem Meineid kommt, muss schon viel Verlogenes im Herzen Platz gegriffen haben. Jesus wünscht sich eine schlichte, zuverlässige Geradheit: Dein Ja soll ein Ja, dein Nein ein Nein sein! Das geht aber nur, wenn du mit dir selbst im Reinen bist.
Die Zehn Gebote sind unerlässliche Lebensregeln. Aber sie halten nicht, wenn sie nicht aus innerster Überzeugung gehalten werden. Als äußere Regeln, wie bloße Verkehrsregeln, sind sie nicht tragfähig. Sie müssen wirklich Herzensregeln sein.
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein. Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. Ihr habt gehört. dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst keinen Meineid schwören, und: Du sollst halten, was du dem Herrn geschworen hast. Ich aber sage euch: Schwört überhaupt nicht. Euer Ja sein ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen.