Gedanken zum Evangelium, von Kardinal Christoph Schönborn, am Ostersonntag, 20. April 2014.
Wie oft sagen wir von einem Verstorbenen: Er liegt dort und dort begraben, auf jenem Friedhof, in diesem Grab. Wir reden so, als läge da wirklich der Verstorbene und nicht bloß sein Leichnam. Wir sprechen von unseren Lieben, die uns im Tod vorausgegangen sind, so als wäre ihr Grab gewissermaßen ihre Behausung, ihre Ruhestätte. Oft steht ja auch auf den Grabsteinen: Hier ruht der oder die soundso, als schliefen sie da im Grab.
Maria von Magdala ging es nicht viel anders, als sie früh am Morgen des ersten Tages der Woche (unserem heutigen Sonntag) zum Grab kam, in das man den Leichnam Jesu bestattet hatte. Sie wollte dem ihr so lieben und kostbaren Verstorbenen nahe sein. Umso größer war ihr Schrecken, als sie das Grab offen und leer fand. Sie lief schnell zu den Aposteln und ruft ihnen voll Sorge zu: "Man hat den Herrn aus dem Grab weggenommen."
Mich berührt an diesem schmerzlichen Ausruf der Maria Magdalena, dass sie nicht sagt: Man hat die Leiche Jesu weggenommen. Für sie ist es einfach "der Herr", der da nicht mehr im Grab liegt. Im Kopf, mit dem Hirn, im Verstand, wissen wir, dass die Leiche des Toten nicht mehr er selber ist. Wir sagen ja auch beim Begräbnis: Das, was an ihm, dem Verstorbenen, sterblich war, seinen Leib, übergeben wir der Erde. Im Glauben sagen wir: Der Verstorbene ist jetzt bei Gott, in der Ewigkeit. Aber im Herzen empfinden wir es anders, zumindest in der ersten Zeit nach dem Tod eines lieben Menschen. Da zieht es uns hin zum Grab, da weinen wir und lassen die Trauer und den Schmerz des Abschieds zu. Dort, wo das Grab ist, dort spüren wir oft die Nähe des Verstorbenen besser. Sein Leichnam, der da im Grab ruht, ist wie eine Brücke, ein Zugang zum Verstorbenen, auch wenn wir glauben, dass er nun in Gottes Ewigkeit ist.
Ein Mal, ein einziges Mal, ist ein Grabgang, ein Grabbesuch, zu einer echten, ganz neuen Begegnung mit dem Verstorbenen geworden. Erleben durfte das eine Frau, die in ihrer Trauer die Nähe des Grabes suchte. Der Schmerz über den Tod Jesu wurde noch viel größer, als sie das Grab leer fand. Nicht einmal den Leichnam des geliebten Meisters haben sie verschont. Dieser letzte Trost schien ihr genommen zu sein: am Grab trauern zu können.
Nur einen Wunsch hat sie: Ihn, Jesus, will sie finden. Den, den sie für den Gärtner hält, bittet sie: "Sag mir, wohin du ihn gelegt hast. Dann will ich ihn holen." Für sie ist Jesus wenigstens in seinem Leichnam noch greifbar nahe.
Da kommt es zur Begegnung am Grab. Der "Gärtner" spricht sie an, nennt sie beim Namen. Da erkennt sie ihn, Jesus. Jetzt begreift sie, warum der Leichnam aus dem Grab weg war. Jesus lebt. Er ist nicht in dieses Leben zurückgekehrt. Deshalb sagt er ihr: "Halte mich nicht fest." Aber er schickt sie als erste Botin der Auferstehung zu uns allen. Auch wir werden ihm begegnen. Und unseren Lieben, an deren Grab wir trauern. Diese Hoffnung wird heute, zu Ostern, zur Gewissheit.
Johannes 20,1.11-18
Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war. Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Während sie weinte, beugte sie sich in die Grabkammer hinein.
Da sah sie zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, den einen dort, wo der Kopf, den anderen dort, wo die Füße des Leichnams Jesu gelegen hatten. Die Engel sagten zu ihr: Frau, warum weinst du? Sie antwortete ihnen: Man hat meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wohin man ihn gelegt hat. Als sie das gesagt hatte, wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war. Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie meinte, es sei der Gärtner, und sagte zu ihm: Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast. Dann will ich ihn holen. Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich ihm zu und sagte auf hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister. Jesus sagte zu ihr: Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern, und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. Maria von Magdala ging zu den Jüngern und verkündete ihnen: Ich habe den Herrn gesehen. Und sie richtete aus, was er ihr gesagt hatte.