Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 11. Mai 2014.
Als ich vor 23 Jahren die Bischofsweihe empfing, schrieb mir einer meiner früheren Studenten an der Universität Fribourg in der Schweiz einen Brief, den ich kostbar aufgehoben habe. Zum heutigen Evangelium habe ich ihn wieder einmal hervorgeholt. Denn wie die Rede Jesu, so handelt dieser Brief vom Hirten und der Herde. Robert, mein ehemaliger Student, inzwischen Priester geworden, war als Kind oft mit der Schafherde seines Dorfes im Lötschental, im Wallis, in den Bergen unterwegs gewesen. Allein mit den Schafen hat er manche Erfahrung gesammelt, die so zum heutigen Evangelium passt, dass ich mir erlaube, ihn etwas ausführlicher selber zu Wort kommen zu lassen.
Er schreibt: „Jede Herde braucht einen guten Hirten. Ihm steht es frei, der Herde voranzuschreiten oder hinter ihr herzulaufen. Nur muss er wissen, WANN er das eine oder das andere tun darf oder muss. Geht der Hirte der Herde voraus, riskiert er, dass ihm einige Schafe verloren gehen; geht er nur hinterher, kann es sein, dass sich die Herde zerstreut. Öfters muss er sich an den Schluss der Herde begeben, dort wird er sehen, welche seiner Schafe lahm und müde, welche verletzt und erschöpft sind, welche getragen und verarztet werden müssen. Steht er am Ende der Herde, braucht er nicht unbedingt ängstlich zu sein, dass die Herde sich verirrt. Durch seine Stimme kann er die Herde auch von hier aus leiten und führen, gute Leittiere werden ihm dabei behilflich sein. Und oftmals geht die Herde seltsame Wege, die der Hirt von sich aus nicht gehen würde. Aber einmal glücklich und über Umwege ans Ziel gelangt, versteht er, wenn er einen Blick zurück wirft, dass dieser von der Herde eingeschlagene Weg für alle 'gangbar' gewesen ist. Das Schreiten hinter den Schafen her setzt voraus, dass der Hirt der Herde und die Herde dem Hirten voll und ganz vertrauen kann.“
Soweit die Beobachtungen von Robert, dem von Kind an erfahrenen Hirten, der nun als Priester seinen Hirtendienst tut. Ich habe mich in all den Jahren seit meiner Bischofsweihe oft an diese Worte des Walliser Hirten und Priesters erinnert. Sie halfen mir die Worte Jesu über die Hirten besser zu verstehen und meinen eigenen Weg als Hirte einer großen Diözese zu bedenken.
Jesus spricht davon, dass seine Schafe ihm folgen, „denn sie kennen seine Stimme“. Und Jesus fügt hinzu: „Einem Fremden werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen.“ Jesus sagt, dass der Hirte seiner Herde vorangeht. Robert erzählt, dass er seiner Herde oft auch hinterher gegangen ist. Besteht da ein Widerspruch? Ich glaube nicht. Meine eigene Erfahrung im Hirtendienst als Bischof zeigt mir, dass es wirklich oft so ist, wie Robert es beschreibt. Der Hirt geht nicht immer nur voran. Er kann auch manchmal einfach der Herde folgen, im Vertrauen, dass sie ein sicheres Gespür dafür hat, wo eine gute Weide ist. Als Hirte muss ich nicht immer alles besser wissen. Wichtig ist nur, dass ein gegenseitiges Kennen und Vertrauen besteht. Und dass klar ist, dass Jesus der eigentliche Hirte ist. Nur er kennt wirklich jeden einzelnen. Nur seine Stimme weckt Vertrauen. Nur er schenkt volles Leben.
In jener Zeit sprach Jesus: Amen, amen, das sage ich euch: Wer in den Schafstall nicht durch die Tür hineingeht, sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber. Wer aber durch die Tür hineingeht, ist der Hirt der Schafe. Ihm öffnet der Türhüter, und die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus, und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen. Dieses Gleichnis erzählte ihnen Jesus; aber sie verstanden nicht den Sinn dessen, was er ihnen gesagt hatte. Weiter sagte Jesus zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen. Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber; aber die Schafe haben nicht auf sie gehört. Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.