Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 25. Mai 2014
Jesus verspricht den Seinen einen Gratisanwalt. Wenn er nicht mehr bei ihnen sein wird, nach seinem Weggang, wird er ihnen einen Anwalt besorgen, der immer für sie da sein wird. "Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen." Verwaist werden sie sich fühlen, wenn Jesus nicht mehr bei ihnen ist. Deshalb verspricht er ihnen "einen anderen Anwalt", der sie ebenso gut vertreten und verteidigen wird, wie er es zu Lebzeiten getan hat.
Wer ist dieser Anwalt? Und wozu braucht es ihn? Jesus verwendete wahrscheinlich das griechische Fremdwort "Paraklet", das auch im jüdischen Sprachgebrauch Eingang gefunden hatte, so wie wir das lateinische Fremdwort "Advokat" gebrauchen, um einen Rechtsbeistand zu bezeichnen.
Wozu brauchen wir einen Advokaten? Was soll ein Rechtsanwalt in unserem Leben? Sind wir denn Angeklagte, die einen Strafverteidiger benötigen? Sind wir in einen Prozess verwickelt, dass wir einen Anwalt zu unserem Schutz brauchen? Können wir uns nicht selber verteidigen? Sind wir gar unmündig? Wer klagt uns an? Alle diese Fragen stellen sich mir, wenn ich dieses Wort vom anderen Anwalt höre.
Ich glaube, wir leben in einer Welt der ständigen Beschuldigungen und Anklagen. Dauernd müssen wir uns verteidigen, uns rechtfertigen. Es wird in allem andauernd nach Schuldigen gesucht. So ist es in der Politik, in den Medien, aber auch im persönlichen Leben. Meistens suchen wir die Schuld bei anderen und verteidigen unsere eigene Unschuld. Manche wiederum leiden an übergroßem Schuldgefühl und halten sich selber für wertlos, untauglich, für nicht liebenswert und daher ungeliebt. Besonders schmerzlich ist es, wenn Menschen sich von Gott verstoßen und nicht angenommen empfinden. Nichts schmerzt mehr als das Gefühl, ungewollt und ungeliebt zu sein.
Ich habe den Eindruck, dass viele Gott selber oft vor allem als Richter sehen, der uns wie ein Buchhalter genau alles vorhält, was wir falsch gemacht haben. Nicht als unser Anwalt, sondern eher als unser Ankläger. Eher als der, der Angst macht als der, der Angst nimmt. Genau gegen diese Angst richtet sich die Ankündigung Jesu, er werde uns einen Beistand, einen Anwalt erbitten und schicken, damit wir gegen alle Anklagen einen Verteidiger haben.
Johannes, der Jesus so nahe war, sagt einmal: "Auch wenn unser Herz uns verurteilt, Gott ist größer als unser Herz." Ich glaube, das ist das Herz dessen, was Jesus wollte und immer noch will. Allen Menschen will er sagen: Du bist gewollt und geliebt, soviel du auch von anderen oder von dir selber angeklagt wirst. Diesen Geist hat Jesus versprochen und geschickt. Er sagt, die Welt könne diesen Geist nicht empfangen, "weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt". In der Welt und leider oft auch in der Kirche herrscht der Geist der Beschuldigungen, der gegenseitigen Anklagen und Verurteilungen. Der Geist Jesu ist anders. Er tritt für uns ein, nicht gegen uns. Er macht nicht nieder, sondern richtet auf. Er klagt nicht an, sondern macht Mut. Er wird zu Recht auch der Tröster genannt. Denn in allen Nöten dieses Lebens brauchen wir vor allem einen, der uns Zuversicht schenkt. Diesen guten Geist hat Jesus versprochen. Und er hält sein Versprechen.
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleiben soll. Es ist der Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr aber kennt ihn, weil er bei euch bleibt und in euch sein wird. Ich werde euch nicht als Waisen zurücklassen, sondern ich komme wieder zu euch. Nur noch kurze Zeit, und die Welt sieht mich nicht mehr; ihr aber seht mich, weil ich lebe und weil auch ihr leben werdet. An jenem Tag werdet ihr erkennen: Ich bin in meinem Vater, ihr seid in mir und ich bin in euch. Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren.