Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 1. Juni 2014
Ich glaube, dass viel mehr Menschen beten als wir im Allgemeinen annehmen. Nicht alle nennen es Beten, wenn sie zum Beispiel für ihre Kinder Gutes erhoffen oder in Not und Bedrängnis auf Hilfe "von oben" vertrauen. Ist es schon ein Gebet, wenn jemand in einer Kirche ein Kerzlein beim Marienbild entzündet? Oder wenn Leute am Rückspiegel ihres Autos einen Rosenkranz anbringen? Und wie ist es mit den Momenten, in denen wir still werden, in uns gehen, nachdenken? Auch das ist nicht weit vom Gebet entfernt.
Jesus sehen wir im Evangelium als einen großen Beter. Immer wieder wird berichtet, dass er sich in die Einsamkeit zurückzog um zu beten. Manche Worte seines Betens sind überliefert. Das längste aufgezeichnete Gebet hat das Johannesevangelium erhalten. Seinen Anfang bildet das heutige Sonntagsevangelium. Jesus sprach dieses Gebet wenige Stunden vor seiner Festnahme. Es ist wie sein Testament. Er betet um das, was ihm das Wichtigste ist.
Als Erstes fällt dabei auf, dass Jesus sein Beten körperlich ausdrückt. Wir beten immer auch mit unserem Leib. Jesus erhebt die Augen zum Himmel. Das ist ein Zeichen dafür, dass wir im Gebet unser Herz, unsere Gedanken über unseren Alltag hinaus auf Gott ausrichten.
Wenn ich um Rat gefragt werde, wie man Beten lernen kann, so sage ich gerne: Fangen Sie mit dem Leib an, die Seele wird dann nachfolgen! Oft hilft es einfach niederzuknien. Oder sitzend die Augen zu schließen. Die Körperhaltung ist schon der erste Schritt zum Beten.
Jesus betet zuerst für sich selber. Darf man das? Manche meinen, sie seien besonders fromm, wenn sie nichts für sich erbitten, und nur für andere beten. Jesus ermutigt uns, für uns selber zu beten. Was erbittet er für sich? "Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir!" Ist das nicht anmaßend? Aber genau um das geht es doch am Lebensende, auch wenn die Worte fremd klingen. Jesus bittet, dass er das Ziel erreicht, das Gott für sein Leben vorgesehen hat. Jedes Mal wenn wir Gott um Hilfe bitten, geht es doch darum, dass unser Leben gelingt, im Kleinen des Alltags und im Großen des ganzen Lebens.
Zu diesem Gelingen des Lebens gehört nicht nur, dass ich es persönlich schaffe, mein Ziel zu erreichen. Ich kann ja mein Leben nie von dem der anderen loslösen. Jesus bittet deshalb gleichzeitig für sich und für die Seinen, für alle, die Gott ihm gegeben hat. Wie eine Mutter, die sterben muss, für ihre Kinder betet, so betet Jesus für seine Jünger, für die ganze Familie derer, die zu ihm gehören.
In diesem Gebet für "die Seinen" sagt Jesus etwas, das wir alle einmal lernen müssen. Er betet "für alle, die du mir gegeben hast; denn sie gehören dir". Im Beten lernen wir das Loslassen. Wir beten für alle, die uns lieb und teuer sind. Wenn wir wirklich für sie Gott bitten, bekennen wir, dass sie nicht uns, sondern Ihm gehören, und dass wir sie letztlich nur seiner guten und gütigen Hand anvertrauen können. Das Loslassen kann schwer und schmerzlich sein. Aber es ist auch befreiend. Jesus hat uns selber diesen Weg vorgezeigt. Und er betet für uns, dass er uns gelingt.
In jener Zeit erhob Jesus seine Augen zum Himmel und sprach: Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht. Denn du hast ihm Macht über alle Menschen gegeben, damit er allen, die du ihm gegeben hast, ewiges Leben schenkt. Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast. Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und das Werk zu Ende geführt, das du mir aufgetragen hast. Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war. Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie gehörten dir, und du hast sie mir gegeben, und sie haben an deinem Wort festgehalten. Sie haben jetzt erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist. Denn die Worte, die du mir gegeben hast, gab ich ihnen, und sie haben sie angenommen. Sie haben wirklich erkannt, dass ich von dir ausgegangen bin, und sie sind zu dem Glauben gekommen, dass du mich gesandt hast. Für sie bitte ich; nicht für die Welt bitte ich, sondern für alle, die du mir gegeben hast; denn sie gehören dir. Alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein; in ihnen bin ich verherrlicht. Ich bin nicht mehr in der Welt, aber sie sind in der Welt, und ich gehe zu dir.