Drama, Dowry und Distanzliebe in Kenia
“Ich weiß nicht mehr weiter”, sagt Peter*), 28, mit brüchiger Stimme. “Meine Verlobte und ich sind von der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen worden. Wir sind Verstoßene.” Er fügt hinzu: “Und ich bin enterbt worden.”
Was ist passiert? Peter hat in den Augen der traditionellen Luah-Gemeinschaft, einer der größten Ethnien in Kenia, so etwas wie eine Todsünde begangen: Er und seine Verlobte haben sich selbst ‚ausgesucht‘, anstelle der Wahl zur Gänze den Eltern zu überlassen. Peters Vater hat ihn daraufhin aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen. Die Folgen sind verheerend: Peter, der angehende Bräutigam kann nicht mehr auf die Gemeinde zurückgreifen, um sich für das Brautgeld Tiere und Bargeld auszuborgen.
Ohne Brautgeld geht nichts
Das ‘Dowry’ – ‘mahari’ in Swahili – wird in diesem Fall an die Eltern der Braut bezahlt und besteht aus Zig Ziegen, Schafen, Kühen, Kamelen sowie einigen Zehntausend Kenianischen Schillingen – unleistbar für Geringverdiener. Im Falle einer kirchlichen Heirat befragt der Priester das Paar, ob das Dowry auch wirklich bezahlt worden ist. Andernfalls gibt es keine Hochzeit.
“Nachdem Heiraten keine Option für uns ist, bleibt uns nichts anderes übrig als ‘Liebe über Distanz’ mittels WhatsApp und Facebook”, meint Peter. Andere Möglichkeiten des Zusammenseins sind für die beiden Christen ausgeschlossen. Genauso sieht es die Dorfgemeinde, die fast ausschließlich christlich orientiert ist, wenngleich Christentum eine Mischung aus verschiedenen Denominationen bedeutet: Katholiken, Lutheraner, Anglikaner, afrikanische Anglikaner in Form der African Inland Church, Pfingstler und eine Fülle an lokalen Dorfkirchen.
Konflikt zwischen traditionellen und christlichen Wertvorstellungen
Kenia kennt circa 62.000 registrierte christlich-orientierte Kirchenorganisationen, von denen die Katholische Kirche eine ist. Einige Kirchenorganisationen haben eine einzige Kirche, die großen besitzen einige Hundert. Zum besseren Verständnis: Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2019 gaben 40.379.079 Personen oder 85,52 % der Gesamtbevölkerung an, sie seien Christen. Nur noch 318.727 Menschen oder 0,68 % der Kenianer rechneten sich 2019 den traditionellen afrikanischen Religionen zu.
Abseits vom üblichen Diskurs über Afrika, geprägt von wirtschaftlicher Entwicklung, Armut und Unruhen werden die Widersprüche zwischen traditionellen und kirchlichen Moralvorstellungen gerne übersehen. Kirchen hatten leicht Zugang zu traditionellen Wertegemeinschaften, da deren moralische Einstellungen zum Großteil kongruent waren und nach wie vor sind. Wie mitunter jedoch traditionelle gegenüber kirchlichen Wertvorstellungen dominant sein können, illustriert ein weiterer Fall.
Ehe als Ehren- und Imagesache
Beatrice, 35, ist seit über 10 Jahren mit einem Mann aus der Ethnie der Luo in Westkenia verheiratet. Die beiden haben zwei Kinder, die christliche Schulen besuchen. So weit, so gut. Bloß, Beatrices Gatte hat einen älteren Bruder. Solange dieser nicht verheiratet ist, darf der nächstjüngere Bruder nicht heiraten. Erst wenn der zweite Bruder verheiratet ist, darf der dritte Bruder heiraten – und so weiter.
Beatrice sagt dazu: “Wir dürfen nicht heiraten, ansonsten würde mein Mann alle Ehre in seiner Gemeinde verlieren und eine Identitätskrise bekommen. Daher leben wir ohne Trauschein. Wir müssen das verheimlichen, sonst verlieren wir in unserer Kirchengemeinde unser gutes Image. Und etwaige Konsequenzen, die unsere Kinder tragen müssten, wollen wir ihnen nicht antun.”
Dass die Eltern und Verwandten ihres Mannes alle strenggläubige Christen sind, braucht nicht extra erwähnt zu werden. Dennoch überschreibt die traditionelle Wertvorstellung die christliche. Eine kirchliche Heirat ohne den Segen der traditionellen Gemeinde wird als ‚fake‘ erachtet. Die Gesellschaft sieht darin kein Drama, die Betroffenen jedoch sehr wohl.
Kulturen im Umbruch
Inwieweit dies zu einer langsamen Erosion entweder der traditionellen oder kirchlich-religiösen Wertewelt führen wird, ist offen. Die Vermutung ist, dass beide Wertewelten gleichermaßen der zunehmenden Kritik der Generation der 20- und 30-Jährigen ausgesetzt sind. Vielleicht bedarf es einer visionären Person oder eines nationalen bewusstseinsbildenden Prozesses, um in Zukunft beide Welten in einer neuen Synthese zusammenführen zu können.
Die beiden Fälle sind auch symptomatisch für Turkana im Nordwesten Kenias, wo die Erzdiözese Wien und HORIZONT3000 versuchen, durch ihre Zusammenarbeit mit der Diözese Lodwar Akzente für eine solche Bewusstseinsbildung zu setzen.
*) Die Namen aller Beteiligten sind auf deren Wunsch geändert worden. Alle Beteiligten sind dem Autor persönlich bekannt.
Günter Woltron, Mai 2024
Günter Woltron ist – gemeinsam mit seiner Frau Gillian - seit fast zwei Jahren als HORIZONT3000-Fachkraft im Auftrag der Erzdiözese Wien in der Partnerdiözese Lodwar im Nordwesten Kenias auf Einsatz.