Das Kreuz Schlüssel der Lebensschule Jesu
Lasset uns beten! Herr Jesus Christus, du hast gesagt: Wenn einer mir nachfolgen will, dann verleugne er sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich. Lehre uns Dir zu folgen, auf dem Weg Deiner Hingabe für uns. Lass uns erkennen, welche Liebe Dich gedrängt hat, diesen Weg zu gehen für uns, damit auch wir diesen Weg mit Dir gehen. Darum bitten wir Dich, der Du mit dem Vater und dem heiligen Geist lebst und herrschst in Ewigkeit. Amen.
Unsere heutige Katechese in der Fastenzeit widmet sich der Frage der Kreuzesnachfolge. "Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (Mt 16,24). Jüngerschaft heißt Kreuzesnachfolge. Daran lässt Jesus keinen Zweifel, aber es stellt sich die Frage: Ist das auch der Grund, warum ihm so wenige nachfolgen? Wenn Jüngerschaft Kreuzesnachfolge heißt, ist man versucht zu sagen: Herr, wundere dich nicht, dass so wenige dir nachfolgen! So sah es zu mindestens Thomas von Kempen in seiner "Nachfolge Christi", in der "Imitatio Christi". Viele Menschen lesen seit dem 15. Jahrhundert diesen geistlichen Autor. Er schreibt: "Jesus hat jetzt viele Jünger, die im himmlischen Reiche gerne mit ihm herrschen möchten. Aber wenige, die sein Kreuz auf Erden tragen wollen. Viele hat er, die Trost, wenige, die Trübsal verlangen. Viele findet er, die mit ihm essen und trinken möchten, aber wenige, die mit ihm fasten wollen. Alle möchten mit ihm Freude haben, aber wenige wollen für ihn leiden… Viele ehren seine Wundertaten, aber wenige teilen mit ihm die Schmach des Kreuzes. Viele folgen Jesus nach, bis zum Brotbrechen am Abendmahl, aber wenige bis zum Trinken aus dem Leidenskelche. Viele lieben Jesus, solange sie nichts zu leiden haben. Viele loben und preisen ihn, solange sie Tröstungen von ihm empfangen. Aber, wenn Jesus sich verbirgt und sie auch nur eine kurze Weile allein lässt, da klagen sie gleich oder verlieren gar den Mut" (II,11,1) (Übersetzt von J.M. Sailer, Reclam 7663, S. 75).
Das sind nüchterne, skeptische Worte. Ja, das Wort vom Kreuz erschreckt. Aber trösten wir uns, das ging schon den Aposteln so. Die Leidensvoraussagen Jesu sind auf Unverständnis und Schrecken gestoßen. Offensichtlich ging Jesus zielgerade und entschieden auf sein Leiden und Kreuz zu. Lukas sagt einmal, Jesus habe (wörtlich) "sein Antlitz fest, entschieden nach Jerusalem gewandt, um dorthin zu gehen" (Lk 9,51). Er ist ganz entschieden auf sein Leiden zugegangen. Markus erinnert uns daran, dass die, die ihm nachfolgten, also seine Jünger, sich fürchteten, ganz schlicht und einfach (Mk 9,32). So geht es vielen von uns, das Kreuz macht Angst. Nachfolge kann unheimlich sein. Daran hat Jesus keinen Zweifel gelassen. Ein gemütlicher Spaziergang ist es nicht, wenn er seinen Jüngern sagt: "Seht, ich sende euch wie Schafe unter die Wölfe" (Mt, 10,16; Lk 10,3). Beim Abendmahl, im Ernst und in der Heiligkeit dieser Stunde, sagt er: "Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe: Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen; wenn sie mein Wort gehalten haben, so werden sie auch das eure halten" (Joh 15,20).
I. Das Kreuz lieben
Jüngerschaft Jesu bedeutet, Anteil an seinem Geschick, am Kreuz, aber auch an der Auferstehung zu haben. Der Platz des Kreuzes ist dabei zentral. Aber ist das Kreuz wirklich der Mittelpunkt unseres Glaubens? Manche sagen uns: Immer nur das Kreuz. Das Kreuz ist und bleibt ein Horror. Die Menschen zur Zeit Jesu wussten das, sie haben von der "Mors turpissima crucis" ("der schändlichste Tod am Kreuz", Tacitus, Hist. IV 3,11) gesprochen, oder sie haben diese Todesstrafe, die ja schon in der vorrömischen Zeit praktiziert wurde, "crudelissimum terrimumque supplicium", die "grausamste und schrecklichste Hinrichtung" genannt (Cicero, Verr. V, 64, 165). Jesus ist diesen Tod gestorben. Tausende und Abertausende zu seiner Zeit sind diesen Tod gestorben, er war einer unter zahllosen von ihnen, die zu Tode gequält wurden, mit diesem grausamen, unmenschlichen supplicium, dieser Hinrichtung. Und das sollen wir lieben? Das Kreuz lieben? Das Kreuz umarmen? Es gab schon von früh an Spott über das Kreuz. Immer wieder wird gerne ein Spottwort von Goethe zitiert: "Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen Dinge/ Duld ich mit ruhigem Mut, wie es ein Gott mir gebeut./ Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider, / Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch und †" (dann macht er nur ein Kreuz) ("Venezianische Epigramme", Nr. 66, aus 1790). Es ist so widerlich wie Knoblauch und Tabak, Spott über das Kreuz! Das Thema ist immer wieder da, wenn über das Kreuz in Karikaturen gespottet wird, aber das ist nicht neu. Bereits aus frühchristlicher Zeit stammt das Spottkreuz aus Rom, wo man einen Gekreuzigten mit Eselskopf dargestellt hat und darunter steht gekritzelt: "der soundso betet seinen Gott an". Paulus wusste, dass das Kreuz ein Ärgernis ist: "Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit, wir predigen Christus den Gekreuzigten. Für die Juden ein Ärgernis, für die Heiden eine Torheit" (1 Kor 1,22f).
"Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach" (Mt 16,24). Wollen wir das? Kann ich das Kreuz auf mich nehmen wollen? Ist das nicht krank, lebensfeindlich, widernatürlich? Der heilige Johannes Chrysostomos (344-407), der große Prediger und Bischof von Konstantinopel, hat dieses Jesuswort in seinem Matthäuskommentar so ausgedeutet: "Wenn mir jemand nachfolgen will"; "Ich zwinge nicht, ich tue niemand Gewalt an, sondern mache jeden zum Herrn seines Willens. Darum sage ich auch: wenn jemand will, denn ich lade zu Gütern ein, nicht zu Übeln und Beschwerden, nicht zu Strafe und Züchtigung, dass ich Zwang anwenden müsste. Vielmehr ist die Natur der Sache selbst geeignet, anzulocken. Indem er (Jesus) also redet, regt er noch mächtiger an, denn wer zwingen will, stößt häufig zurück… Milde ist mächtiger als Gewalt. Darum spricht Jesus: ‚Wenn jemand will‘, denn groß ‚will er sagen, sind die Güter, die ich euch gebe. Es sind solche Güter, dass ihr freiwillig denselben nachstreben müsst‘… Darum zwingt uns Christus nicht" (Homilie 55).
Es handelt sich also um Güter. Das Kreuz wollen? Das Kreuz als etwas Gutes betrachten? Niemand ist gezwungen Jesus nachzufolgen, also auch nicht sein Kreuz anzunehmen. Aber was motiviert mich? "Was bringt es mir"? – Diese Frage wird heute oft gestellt, vor allem von jungen Menschen. Was habe ich davon? Warum soll ich mir das antun: die Kreuzesnachfolge? Ich habe bei der Stadtmission 2003 Sr. Elvira eine Frage gestellt. Sie erinnern sich, Sr. Elvira, diese großartige italienische Ordensfrau, hat die Gemeinschaft "Cenacolo" gegründet, die inzwischen in der ganzen Welt Niederlassungen hat, um drogensüchtige Burschen und Mädchen aufzunehmen und ihnen einen neuen Weg ins Leben zu ermöglichen. Viele, viele, tiefe Heilungen sind durch die Hilfe Gottes in dieser Gemeinschaft möglich geworden. Hinreißend hat sie voller Freude über Christus gesprochen und über die Heilung, die er schenkt. Ich habe Sr. Elvira gefragt: Wie kann ich das Kreuz lieben? Und sie hat sofort und klar geantwortet: "Nicht das Kreuz, sondern den Gekreuzigten"!
Das war für mich wie ein Schlüssel, ein Licht. Es geht nicht darum, das Kreuz zu lieben, sondern den Gekreuzigten. Ihm sollen wir nachfolgen. Mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen sollen wir verbunden sein, mit seinem Leiden, mit seiner Liebe. Weil er sein Kreuz auf sich genommen hat, will ich mit ihm sein und mein Kreuz annehmen. Dieses kleine Wort war das Schlüsselwort: ER hat mich geliebt bis zum Äußersten! Deshalb bekommt das Kreuz einen ganz neuen, starken Sinn. ER, der Gekreuzigte, gibt dem Kreuz einen neuen Sinn. Wenn mein Kreuz, das ich zu tragen habe, von ihm her Bedeutung bekommt, wenn es mich mit ihm verbindet, dann kann ich, wie der hl. Johannes Chrysostomos sagen, dass das Kreuz zu einem Gut wird, zu einem Gewinn, weil es mich mit Ihm verbindet. Aber das sieht "der natürliche Mensch", Paulus würde sagen: "der fleischliche Mensch" nicht. Für ihn ist das Kreuz einfach nur Widersinn, Leid, Zerstörung, ein Unwert. Aber es gibt die Erfahrung, dass sich der Blick wendet, das Kreuz Christi und unser Kreuz mit ihm in einem anderen Licht erscheinen. Das ist abstrakt gar nicht fassbar. Man muss erleben, dass das Kreuz ein Gut sein kann, eine Gnade. Es ließen sich hier viele Beispiele nennen, und wahrscheinlich könnten Sie selber eine ganze Reihe Beispiele hinzufügen.
Ich greife eines heraus aus dem Leben der heiligen Theresia Benedicta vom Kreuz, OCD, d.h. der heiligen Edith Stein. Wir sind heuer in einem Edith-Stein-Jahr. Am 9. August 2012 ist es 70 Jahre her, dass sie in Auschwitz in der Gaskammer zusammen mit ihrer Schwester und vielen, vielen anderen umgebracht wurde. Sie stammte aus einer gläubigen jüdischen Familie aus Breslau, aber als Mädchen hat sie sich bewusst für den Unglauben entschieden und mit dem Beten aufgehört. Sie sagt: "Ich habe mir das Beten ganz bewusst und aus freiem Entschluss abgewöhnt…" Nach einer brillanten Reifeprüfung beginnt sie ihr Philosophiestudium bei Edmund Husserl, dem großen jüdisch-deutschen Philosophen. Einer ihrer Studienkollegen, Adolf Reinach, sehr glücklich jung verheiratet, fällt 1917 im Ersten Weltkrieg. Professor Husserl schickt Edith Stein zur Witwe Reinach mit dem Auftrag, sie möge doch mit ihr zusammen den philosophischen Nachlass von Adolf Reinach sichten und der Witwe helfen. Edith fürchtet sich sehr vor diesem Auftrag. Sie unternimmt diese Reise mit großer Sorge und Angst. Reinach hatte ihr viel bedeutet, persönlich als Kollege, aber auch als Mensch mit seiner Güte und Lauterkeit. Sie war selber schmerzlich von dem Tod ihres Kollegen betroffen und stellte sich vor, wie sie der Witwe in ihrer großen Trauer Trost bringen könne. Doch es kommt ganz anders. Statt wie erwartet einer gebrochenen, trostlosen Frau zu begegnen, begegnet sie einer Frau, die mehr zum Trost für ihre Freunde wurde, als dass sie selber Trost erwartet hätte.
Edith Stein schreibt im Rückblick auf diese überraschende Begegnung: "Es war dies meine erste Begegnung mit dem Kreuz und mit der göttlichen Kraft, die es seinen Trägern mitteilt. Ich sah zum ersten Mal die aus dem Erlöserleiden Christi geborene Kirche in ihrem Sieg über den Stachel des Todes handgreiflich vor mir. Es war der Augenblick, in dem mein Unglauben zusammenbrach, das Judentum verblasste, und Christus aufstrahlte: Christus im Geheimnis des Kreuzes" (Elisabeth Otto, Welt – Person – Gott. Eine Untersuchung zur theologischen Grundlage der Mystik bei Edith Stein, Vallendar- Schönstatt 1990, S. 107).
Christus im Geheimnis des Kreuzes, das wurde für Edith Stein die Mitte ihres Lebens und ihres Sterbens. Sie erlebte an der Witwe ihres Kollegen und Freundes Adolf Reinach, "dass die Urerfahrung ihres Glaubens im Tod und in der Auferstehung Jesu gründet. Edith Stein kann bei ihr beobachten, dass der Mensch, der an Jesus Christus glaubt, die Geschichte von ihm her versteht, dass er sie aus dem Geheimnis des Kreuzes, das heißt: aus dem Geheimnis der Liebe Gottes deutet" (ebd.). Pater Hirschmann SJ erinnert sich nach dem Krieg an das letzte Gespräch, das er mit Edith Stein, Sr. Theresia Benedicta im Karmel von Echt in Holland hatte, kurz vor ihrer Deportation nach Auschwitz. Er sagt: "Der entscheidende Anlass zu ihrer Konversion zum Christentum war, wie sie mir erzählte, die Art und Weise, wie die ihr befreundete Frau Reinach in der Kraft des Kreuzesgeheimnisses das Opfer brachte, das ihr durch den Tod ihres Mannes an der Front des Ersten Weltkriegs auferlegt war. In diesem Opfer erlebte sie einen Beweis der Wahrheit der christlichen Religion und war für sie geöffnet" (Brief vom 13.5. 1950, zit. Bei Elisabeth Otto, a.a.O.).
Der letzte Schritt hin zur Bekehrung von Edith Stein und damit zu ihrer Taufe war dann die Lektüre der Autobiographie der heiligen Teresia von Avila. "Teresa zeigte Edith Stein das Kreuz als Quelle des Lebens. Diese Quelle wird für sie fruchtbar in der Liebe zum Gekreuzigten, in seiner Nachfolge". (Elisabeth Otto, op. cit., S. 110).
II. Die Liebe zum Gekreuzigten!
Nachfolge, Jüngerschaft, Lebensschule Jesu kann nur heißen: Liebe zum Gekreuzigten! Denn am Kreuz hat Jesus seine ganze Liebe erwiesen. "Niemand hat eine größere Liebe als die, dass er sein Leben für seine Freunde hingibt" (Joh 15,13) sagt Jesus nach dem Abendmahl. Und Edith Stein schreibt einmal an einen ihrer Studienkollegen und engen Freund, Roman Ingarden: "Wo die eigene Erfahrung mangelt, muss man sich an Zeugnisse von homines religiosi [gläubige Menschen] halten. Davon ist ja kein Mangel" (Brief vom 20.11. 1927; ESGA 4, Brief 117). Wenn man diese Erfahrung selber nicht gemacht hat, soll man auf die hören und schauen, die sie gemacht haben. An denen ist kein Mangel. Ich glaube eine der ganz wichtigen Aufgaben, vor denen die Kirche heute steht, ist, zu lernen, über diese Erfahrungen zu erzählen. Die Kirche ist eine Erzählgemeinschaft. Solche Geschichten, wie die von Edith Stein, aber auch die, die wir in unseren Leben machen, davon sollen wir erzählen. Das ist das Entscheidende an der Mission. Das bedeutet nicht, den anderen am Westenknopf zu packen und ihm lästig zu sein, sondern erzählen, was wir erfahren haben, oder die erzählen lassen, die es erfahren haben.
Die "Kreuzeswissenschaft" (so der Titel von Edith Steins letztem Werk, das sie kurz vor ihrer Verhaftung am 2. August 1942 vollendet wurde) ist ganz und gar ausgerichtet auf die Kreuzesnachfolge, wie sie Edith Stein im Leben des hl. Johannes vom Kreuz vorgelebt sieht. Sie findet in Johannes vom Kreuz einen ganz besonders bevorzugten Zeugen der Erfahrung in der Lebensschule Jesu, die Erfahrung der "Kreuzeswissenschaft". In Johannes vom Kreuz sieht Edith Stein einen Meister, der nur dieses eine Ziel hatte: "die ‚Verähnlichung mit dem Geliebten‘ in allen seinen Phasen: Leben, Leiden, Sterben, Tod und Auferstehung" (Einleitung von P. Ulrich Dobhan OCD, zur "Kreuzeswissenschaft", Gesamtausgabe Bd. 18, S. XXIf.)
Die "Verähnlichung mit dem Geliebten" – das ist die Grunderfahrung eines Johannes vom Kreuz, ebenso des hl. Paulus, Jude wie Edith Stein, aber gläubiger Jude, nicht religiös distant wie sie. Er bezeichnet sich selber als "gesetzestreuer Jude", sagt von sich, er habe "Jesus, unseren Herrn gesehen" (1 Kor 9,1), Gott habe "ihm seinen Sohn geoffenbart" (Gal 1,16). Dieser Paulus, der Jesus auf dem Weg nach Damaskus begegnet ist, ist ganz und gar auf die Liebe zum Gekreuzigten konzentriert.
Er will nur mehr Christus kennen und nur mehr Christus verkündigen "als den Gekreuzigten" (1 Kor 1,23; 2 Kor 2,2). Man spürt in seinen Briefen diese ganze Leidenschaft für Christus und sein Kreuz. Für ihn ist "Christus das Leben und Sterben Gewinn" (Phil 1,21). Vor allem im Galaterbrief, der eine Art kleiner "Autobiographie" des Apostels ist, kommt das intensiv zur Sprache, die leidenschaftliche Liebe zu Jesus dem Gekreuzigten. Da sagt er: "Ich bin mit Christus gekreuzigt worden; nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat§ (Gal 2,19-20).
Paulus, der Jesus nicht persönlich kannte, kann sagen: "Er hat mich geliebt und sich für mich hingegeben". Er, der Jesus nicht kannte, erkennt, dass Jesus ihn gekannt hat, noch ehe er ihm begegnet ist. "Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?" so spricht er ihn an, er kennt ihn (Apg 9,4). Die große Sorge des Paulus ist immer, dass die Jünger und Jüngerinnen Jesu dem Kreuz ausweichen, dass sie "das Ärgernis des Kreuzes beseitigen" (Gal 5,11), die Verfolgung "wegen des Kreuzes Christi" (Gal 6,12) vermeiden wollen. Man spürt hier eine tiefe Trauer des Apostels, dass die Christen dem Kreuz aus dem Weg gehen: "Viele – von denen ich oft zu euch gesprochen habe, doch jetzt unter Tränen spreche – leben als Feinde des Kreuzes Christi. Ihr Ende ist das Verderben, ihr Gott der Bauch; ihr Ruhm besteht in ihrer Schande; Irdisches haben sie im Sinn" (Phil 3,18-19). Das sagt Paulus nicht von den Heiden, das sagt er von seinen Brüdern und Schwestern unter Tränen.
"Als Feinde des Kreuzes Christi leben", das ist das Schlimmste, das dem Jünger Christi geschehen kann. Denn dann verrät er seinen Meister, so wie Petrus im Hof des Hohenpriesters seinen Meister verraten hat (vgl. Lk 22, 61-62). Aber wie sollen wir Freunde des Kreuzes Christi werden? Wie Edith Stein es auf ihrem Weg zur Bekehrung erfahren hat, sollen auch wir auf die schauen, die als Freunde des Kreuzes Christi leben. Paulus sagt das schlicht (wir erschrecken fast vor dem Mut, mit dem er das sagt): "Ahmt mich nach, Brüder, und achtet auf jene, die nach dem Vorbild leben, dass ihr an uns habt" (Phil 3,17). Wenn man es genau übersetzt, ist es noch schöner: "Werdet meine Mit-Nachahmer", d.h.: "So wie ich Christus nachahme, so werdet mit mir, nach meinem Vorbild, Nachahmer Christi". Freunde des Kreuzes Christi werden, heißt also Nachahmer Christi werden, "so gesinnt sein untereinander, wie [die Gesinnung] in Christus Jesus war", sagt Paulus im Philipperbrief (Phil 2,5). Die Liebe zum Gekreuzigten ist die Liebe zu dem, den wir nachahmen dürfen, der uns vorgelebt hat, was es heißt, ein Freund des Kreuzes sein.
Wie diese Gesinnung aussieht, haben die Gemeinden der Urkirche, schon sehr früh in ein Lied gefasst. Es ist eines der bekanntesten frühchristlichen Lieder und wir singen es heute im "Stundengebet" der Kirche jeden Samstag am Abend. Es ist der Hymnus, der im 2. Kapitel des Philipperbriefes steht:
"Er war Gott gleich. / Hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, / sondern er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. / Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich / und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. / Darum hat ihn Gott über alle erhöht / und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, / damit alle im Himmel, auf der Erde / und unter der Erde ihre Knie beugen / vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: / 'Jesus Christus ist der Herr' – / zur Ehre Gottes, des Vaters" (Phil 2,6-11).
III. Kreuz und Selbstverleugnung
Die erste Bedingung, "Freund des Kreuzes Christi" zu sein, ist also der Gehorsam. Was heißt das? Dem eigenen Willen "sterben", wie Christus es getan hat im Ölgarten, als er den Vater inständig bat: "Lass diesen Kelch an mir vorübergehen, Vater, aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe" (Mt 26,39). Wie weit die Jünger von diesem Gehorsam noch entfernt waren, zeigt dass sie schlafen im Garten Gethsemani, während Jesus in Todesangst betet (vgl. Mt 26,36-46).
"Wenn einer hinter mir hergehen will, dann verleugne er sich selbst, und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach". Selbstverleugnung ist der Weg der Nachfolge. Wer sich nicht selbst verleugnet, kann kein Freund des Kreuzes Christi sein. Aber was heißt "Selbstverleugnung"? Dazu gibt es unendlich viel geistliche Literatur, Erfahrung durch alle Jahrhunderte von den Schriften der Mönchsväter über die großen Meister des Karmel bis heute. Ich bin auf eine Predigt des jungen, inzwischen selig gesprochenen John Henry Newman über die Selbstverleugnung gestoßen, aus dem Jahr 1833, als er noch anglikanisch war. Er erinnert daran, dass Jesus gesagt hat: Wer sein Jünger sein wolle, der müsse "täglich" sein Kreuz auf sich nehmen (Lk 9,23). Wir wissen es, das "täglich" macht das Kreuz aus. Die normalen Kreuze sind die "täglichen". Es gibt auch große Kreuze, die sozusagen über uns hereinbrechen, meistens bekommen wir für diese großen Kreuze auch große Kräfte. Aber die alltäglichen Kreuze sind die große Herausforderung für die Selbstverleugnung.
Der selige John Henry Newman weist darauf hin, dass das Er-Tragen des "Alltagskreuzes" noch nicht genügt. Er sagt, wir sollen "täglich Gelegenheiten zur Selbstverleugnung förmlich aufspüren… Nehmt euch vor, in den belanglosen Dingen anderen zu gefallen zu sein, in kleinen Dingen anders zu handeln als sonst, es euch eher eine Unbequemlichkeit kosten zu lassen, als dass ihr der täglichen Selbstdisziplin aus dem Weg geht". Newman spricht hier ein Wort aus, das fast vollständig aus unserem Wortschaft der Verkündigung und des christlichen Alltags verschwunden ist: das Wort Abtötung. Er meint das ganz einfach in den alltäglichen Dingen. "Schon das Aufstehen sei eine Überwindung. Eure Mahlzeiten seien eine Gelegenheit, euch abzutöten". Und er bezieht sich dabei auf Paulus, der von sich sagte: "Ich züchtige und unterwerfe meinen Leib, damit ich nicht anderen predige und selbst verworfen werde" (1 Kor 9,27).
Newman ist nüchtern genug, um zu wissen, dass "dies alles eine harte Lehre ist; hart sogar für jene, die sie annehmen und aufs Genaueste zu beschreiben verstehen. Im Herzen und im Leben selbst der Besten gibt es so viel Unvollkommenheiten und Zwiespältigkeiten, dass ständige Bußgesinnung Hand in Hand gehen muss mit unseren Bemühungen gehorsam zu sein. Da bedürfen wir sehr der Gnade des Blutes Christi, damit wir von der täglich neuen Schuld gereinigt werden" (Aus Pfarr- und Volkspredigten, I. Bd, Stuttgart 1948, S. 64-80; www.newmanfriendsinternational.org/german/?p=61).
Wir wissen, in den kleinen Alltagsdingen bewährt sich die Nachfolge des Kreuzes. "Freunde des Kreuzes Christi" werden, verlangt nicht nur Selbstverleugnung, den Sieg über die eigene Selbstbezogenheit, sondern bedeutet vor allem positiv die Gesinnung haben, die in Christus war. Der heilige Thomas von Aquin weist darauf hin, dass es nicht so sehr auf die Schwere des Opfers ankommt, sondern auf die Größe der Liebe. "Er [Christus], hat mich geliebt und sich für mich hingegeben (Gal 2,20). Nicht die Blutigkeit des Kreuzes, nicht die Menge des Leidens, die Schrecklichkeit der Schmerzen Jesu am Kreuz haben uns erlöst, sondern allein die Liebe, die Liebe, die bis zum Letzten geht." (vgl. Thomas v. A. Summa Theologiae III, 9)
"Die Liebe Christi drängt uns, da wir erkannt haben: Einer ist für alle gestorben. Er ist aber für alle gestorben, damit die Lebenden nicht mehr für sich leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde" (2 Kor 5,14-15).
Kreuzesnachfolge ist nichts anderes, als erfasst werden von der Liebe Christi. Es gibt in dieser Nachfolge Erfahrungen, die wie Wendepunkte sind, wo vorher und nachher einen Unterschied ausmachen, an denen das Leben mit Christus und für Christus eine ganz neue Dimension bekommt. Das hat sehr oft mit konkreten Kreuzeserfahrungen zu tun. Die selige Mutter Teresa von Kalkutta erinnert sich an einen solchen Wendepunkt in ihrem Leben. Sie sagt einmal: "Wenn ich, die Mutter, nicht als Erste jene an Gesicht, Beinen u.s.w. von Ratten zerfressene Frau aufgelesen hätte, hätte ich niemals Missionarin der Nächstenliebe sein können. Aber ich bin zurückgekehrt, habe sie aufgelesen und ins Campbell-Hospital gebracht. Hätte ich das nicht getan, wäre die Kongregation daran gestorben. Ekel zu spüren ist menschlich. Wenn wir unseren hingegebenen und unentgeltlichen Dienst anbieten, ohne auf solche Gefühle zu achten, werden wir uns heiligen" (Mutter Teresa, Beschaulich inmitten der Welt. Geistliche Weisungen, Johannes Verlag, Einsiedeln, Freiburg 1990, S. 139).
Kreuzesnachfolge kann an solchen Wendepunkte geschehen, wenn wir im Notleidenden, vielleicht im schrecklich Notleiden Christus erkennen. In den Ärmsten Christus sehen, das hat Mutter Teresa zur Gründerin ihrer Gemeinschaft gemacht. Sie erzählt gerne ein Beispiel von der heiligen Elisabeth von Thüringen. "Eines Tages gab die hl. Elisabeth einem Aussätzigen Gastfreundschaft und ließ ihn auf dem Bett ihres Gatten ruhen. Als die Schwiegermutter das sah, ergriff sie die Gelegenheit, ihren Sohn gegen seine Frau aufzuhetzen. Der Gatte lief erzürnt ins Zimmer, aber zu seiner Überraschung erblickte er auf seinem Bett die Gestalt Christi. Elisabeth, so sagt Mutter Teresa, war dieses Wunder geschenkt worden, weil sie überzeugt war, in dem Aussätzigen Christus zu pflegen" (op.cit., 139 f).
Diese Erfahrung ist mir nicht fremd, auch wenn ich selber weit davon entfernt bin, sie wirklich tief zu leben. Ich kenne Menschen, Zeugen, die das glaubwürdig heute leben, die im Notleidenden Christus begegnen. Ich könnte viele Beispiele nennen, auch Sie könnten Beispiele nennen, Sie könnten davon erzählen.
IV. Not und Leid
Ich möchte zum Abschluss auf zwei Dimensionen der Kreuzesnachfolge kurz zu sprechen kommen, nämlich das Kreuz angesichts ganz großen und schweren Leidens und das Kreuz in der letzten Stunde. Das Kreuz können wir nur lieben, wenn wir den gekreuzigten Herrn lieben, das heißt immer auch den Auferstandenen, der aber als der Auferstandene für uns Hingegebene bleibt mit seinen Wunden. Was aber machen wir angesichts des unsäglichen, erschütternden Leides, dem wir in dieser Welt begegnen können? Dieses Leid scheint manchmal dermaßen groß, dass es einem die Rede verschlägt. Das Leid in der Welt ist oft so überwältigend, dass man wie benommen davor steht. Ich las vor wenigen Tagen einen ausführlichen Artikel im "profil" über die Praxis der Folter weltweit. Ich war fassungslos. Man weiß das, denkt aber doch nicht daran. Es ist unvorstellbar, was heute, in dieser Stunde an Folter geschieht! Oft denke ich in der Nacht an die Gefängnisse. Ich habe vor kurzem einen Übersichtsbericht über den Zustand der Gefängnisse in den meisten Teilen der Welt gelesen. Immer wenn diese Stelle im Psalm kommt: "Du hörst den Schrei der Gefangenen" (vgl. Ps 69,34), muss ich an diese Wirklichkeit unserer heutigen Welt denken, das unvorstellbar viele Elend in den Gefängnissen dieser Welt. Denken wir an den Menschenhandel, auch unter unseren Augen hier in Wien, ohne dass wir es merken. Wie viel Elend an sexueller Ausbeutung, an Gewalt, an Angst. Das ist Kreuz pur, in der ursprünglichen Grausamkeit, mit der es erfunden wurde, um Menschen zu Tod zu bringen. Was sagen wir angesichts dieser Masse an Leid, an Unmenschlichkeit im Blick auf das Kreuz? Heute ist Dr. Stelzer, Vizegeneralsekretär der Vereinten Nationen unter uns, der in der UNO eine leitende Funktion hat und mit dem schweren Bereich der Menschenrechtsverletzungen befasst ist. Was für eine Unmenge an Leid und Elend! Ist demgegenüber unser ganzes Reden von der Liebe zum Kreuz, zum Gekreuzigten, nicht reine Ohnmacht?
Ich erinnere mich an mein erstes Referat im Gymnasium in der 4. Klasse über Henri Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes, gesprochen. Was hat sich doch durch die Initiative dieses einen Mannes geändert, im Zeichen des Kreuzes, auch wenn es säkular ist und nicht mehr unbedingt als das christliche Kreuz gesehen wird. Wieviel selbstloser, bedingungsloser Hilfsdienst weltweit, wieviel Wiedergutmachung des Schrecklichen, das unter dem Zeichen des Kreuzes geschehen ist! In zahllosen Initiativen humanitärer Hilfe wirkt das Kreuz Christi weiter, auch wenn es nicht ausdrücklich genannt wird. Es ist die verborgene, reale Quelle selbstvergessener Hingabe und Hilfsbereitschaft. Hier ist der Gekreuzigte wirklich am Werk.
Das Kreuz in extremis, in der letzten Lebensstunde. Angesichts all der Not ist das Kreuz Christi Zuflucht. Wir sollten oft beim Kreuz Christi Zuflucht suchen, dem Gekreuzigten und Auferstandenen all das Kreuz des Leidens hinhalten. Es gilt aber auch, das Kreuz selber zu umarmen. Ja zu sagen zu dem Kreuz, das uns zugemutet ist und im Leid, in Angst und Hilflosigkeit und Überforderung das Kreuz zu umarmen, das heißt immer den Gekreuzigten ans Herz drücken. Wie viel Trosterfahrungen, Heilserfahrungen von Sterbenden könnten Sie hier erzählen!
Ein Beispiel wäre die wunderbare Stelle in der Autobiographie der kleinen heiligen Theresia über Pranzini, den Mörder, für den sie als 14jährige inständig gebetet hat. Kurz vor seiner Enthauptung, er hatte alle religiöse Hilfe abgelehnt, dreht er sich plötzlich um, ergreift das Kreuz, das der Priester ihm hinhält, küsst es dreimal innig und dann geht in den Tod.
Ich schließe sehr persönlich, mit einem Wort meines Vaters. Übermorgen sind es 33 Jahre her, dass er an Krebs gestorben ist. Das Wort kurz vor seinem Tod gesagt, habe ich seither nie vergessen: "Ich habe einen Satz gelesen, der mich sehr beeindruckt hat. Er lautete: Die Vorderseite vom Kreuz ist Leid und Tod. Die Rückseite ist Auferstehung und Freude".