2. Katechese: Der zornige und barmherzige Gott
Noch heute kann man bei uns in Österreich immer wieder hören: Der Gott des Alten Testaments sei ein zorniger, der des Neuen Testaments ein gütiger Gott. Jesus hat aber keinen anderen Gott verkündet als den, der durch Mose und die Propheten gesprochen hat, keinen anderen als den "Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" (Lk 20,37). Der Gott, den Jesus uns als seinen und unseren Vater verkündet hat, ist kein anderer als der Gott des Alten Testaments.
Dass Jesus einen barmherzigen Gott verkündet hat, ist (scheinbar) klar (wir werden uns später noch näher ansehen, wie das mit Jesu Erbarmen aussieht). Aber ist Gott so, wie er im Alten Testament erscheint, nicht doch ganz anders, als Jesus ihn uns zeigt?
Gott gibt auch den Befehl, die Völker zu vertreiben, die im verheißenen Land leben, am besten gleich, schnell, radikal: "Heute wirst du erkennen, dass der Herr, dein Gott, wie ein verzehrendes Feuer selbst vor dir hinüberzieht [ins gelobte Land]. Er wird sie [die Völker im Land] vernichten und er wird sie dir unterwerfen, sodass du sie unverzüglich vertreiben und austilgen kannst, wie es der Herr dir zugesagt hat" (Dtn 9,3). Wenn es nicht sofort geht, sie zu vertreiben und zu vernichten, dann soll es wenigstens allmählich, aber gründlich geschehen: "Der Herr, dein Gott, wird diese Völker dir nur nach und nach aus dem Weg räumen. Du kannst sie nicht rasch ausmerzen, weil sonst die wilden Tiere überhand nehmen und dir schaden. Doch wird der Herr, dein Gott, dir diese Völker ausliefern. Er wird sie in ausweglose Verwirrung stürzen, bis sie vernichtet sind" (Dtn 7,22 f.).
Wenn wir das heute so lesen, ohne Erklärung, dann klingt das wie eine "Road map" zur Radikallösung: die anderen Völker dürfen nur vorläufig noch bleiben, damit sie, ehe sie vertrieben und vernichtet werden, das Land bebauen, damit es als gutes, gepflegtes Land dem erwählten Volk anheim fällt.
Ich verstehe die neu getaufte Chinesin, die sich schwer tut, in diesen Texten die Stimme des Gottes Jesu Christi zu vernehmen. Tun wir uns leichter? Kennen wir das Alte Testament? Ist es nicht für viele von uns ein verschlossenes, unbekanntes Buch? Seit der Liturgiereform haben die Lesungen aus dem Alten Testament einen eigenen Platz im Gottesdienst bekommen. Meist sind die kurzen Abschnitte schwer verständlich. Deshalb werden sie in den Pfarrgottesdiensten oft - leider und unerlaubterweise - einfach ausgelassen.
Es gibt einen Text bei den Propheten, der die Geschichte Gottes mit seinem Volk als Liebesgeschichte darstellt. Ich zitiere einige Abschnitte aus dem Propheten Ezechiel (Kap. 16): "Sag: So spricht Gott, der Herr, zu Jerusalem: Deiner Herkunft und deiner Geburt nach stammst du aus dem Land der Kanaaniter. Dein Vater war ein Amoriter, deine Mutter eine Hetiterin. Bei deiner Geburt, als du geboren wurdest, hat man deine Nabelschnur nicht abgeschnitten. Man hat dich nicht mit Wasser abgewaschen, nicht mit Salz eingerieben, nicht in Windeln gewickelt. Nichts von all dem hat man getan, kein Auge zeigte dir Mitleid, niemand übte Schonung an dir, sondern am Tag deiner Geburt hat man dich auf freiem Feld ausgesetzt, weil man dich verabscheute. Da kam ich an dir vorüber und sah dich in deinem Blut zappeln: und ich sagte zu dir, als du blutverschmiert dalagst: Bleib am Leben! Wie eine Blume auf der Wiese ließ ich dich wachsen. Und du bist herangewachsen, bist groß geworden und herrlich aufgeblüht. Deine Brüste wurden fest; dein Haar wurde dicht. Doch du warst nackt und bloß. Da kam ich an dir vorüber und sah dich, und siehe, deine Zeit war gekommen, die Zeit der Liebe. Ich breitete meinen Mantel über dich und bedeckte deine Nacktheit. Ich leistete dir den Eid und ging mit dir einen Bund ein und du wurdest mein. Dann habe ich dich gebadet, dein Blut von dir abgewaschen und dich mit Öl gesalbt. Ich kleidete dich in bunte Gewänder, zog dir Schuhe aus Tahasch-Leder an und hüllte dich in Leinen und kostbare Gewänder. Ich legte dir prächtigen Schmuck an, legte dir Spangen an die Arme und eine Kette um den Hals. Deine Nase schmückte ich mit einem Reif, Ohrringe hängte ich dir an die Ohren und setzte dir eine herrliche Krone auf. Mit Gold und Silber konntest du dich schmücken, in Byssus, Seide und bunte Gewebe dich kleiden. Feinmehl, Honig und Öl war deine Nahrung. So wurdest du strahlend schön und wurdest sogar Königin. Der Ruf deiner Schönheit drang zu allen Völkern: denn mein Schmuck, den ich dir anlegte, hatte deine Schönheit vollkommen gemacht - Spruch Gottes, des Herrn" (Ez 16,3-14).
"Doch dann hast du dich auf deine Schönheit verlassen, du hast deinen Ruhm missbraucht und dich zur Dirne gemacht Deinen prächtigen Schmuck aus meinem Gold und Silber, den ich dir geschenkt hatte, hast du genommen und hast dir daraus männliche Figuren gemacht, um mit ihnen Unzucht zu treiben" (v. 15.17).
"Da streckte ich meine Hand aus und nahm dir weg, was dir zustand. Ich lieferte dich deinen rachgierigen Feindinnen aus, den Philisterinnen; sogar sie schämten sich wegen deines schändlichen Treibens" (v. 27).
"Wenn ich meinen Zorn an dir gestillt habe, wird meine Eifersucht aufhören, gegen dich zu wüten. Ich werde Ruhe haben und mich nicht mehr ärgern. Weil du die Tage deiner Jugend vergessen und mich durch dein Treiben gereizt hast, darum lasse ich dein Verhalten auf dich selbst zurückfallen" (v. 42-43).
"Aber ich werde ihr Schicksal wenden, das Schicksal Sodoms und ihrer Töchter, das Schicksal Samarias und ihrer Töchter, und ich werde auch dein Schicksal wenden zusammen mit ihrem Schicksal" (v. 53).
"Denn so spricht Gott, der Herr: Ich will meines Bundes gedenken, den ich mit dir in deiner Jugend geschlossen habe, und will einen ewigen Bund mit dir eingehen. Du sollst dich an dein Verhalten erinnern und dich schämen Ich selbst gehe einen Bund mit dir ein, damit du erkennst, dass ich der Herr bin" (v. 59.60-61.62).
Gott ist gegenüber seinem Volk nicht gleichgültig. Seine Liebe ist leidenschaftlich. Wenn von seinem Zorn die Rede ist, dann ist das nur die Kehrseite seiner leidenschaftlichen Liebe. Sein Zorn ist der Ausdruck seiner Sorge. Nicht Er braucht sein Volk, sondern sein Volk braucht Ihn. Wenn es sich von Ihm abwendet, bringt das Unglück und Not: "Mich hat es [das Volk] verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten" (Jer 2,13).
Die Liebe Gottes zu seinem Volk ist unerschütterlich treu. Sie ist aber auch wahrhaftig. Es ist wohl einmalig in der Religionsgeschichte, dass die Heiligen Schriften einer Religionsgemeinschaft dermaßen kritisch mit der eigenen Gemeinschaft umgehen. Was steht nicht alles an Anklage gegen das auserwählte Volk in den Propheten-Büchern! Unerbittlich wird jedes Versagen beim Namen genannt, werden Fehler bloßgelegt. Die Propheten geißeln - scheinbar - erbarmungslos alle, vom König bis zu den einfachen Leuten, wenn sie die Sündenregister des Gottesvolkes offen legen. Gerade darin aber zeigt sich die wahre Barmherzigkeit: Sie kann nie ohne die Wahrheit sein. Sie kann nur heilen, wenn sie unbestechlich die Diagnose stellt. Klarer als bei den Propheten kann diese nicht ausfallen. Gottes Barmherzigkeit zeigt sich durch das ganze Alte Testament besonders im Erbarmen mit den Sünden seines Volkes. Sie werden nicht klein geredet oder verharmlost. Der nüchterne Realismus in der Sicht von Israels Sünden lässt erst die Größe von Gottes Erbarmen ahnen.
Was hat das mit der Barmherzigkeit zu tun? Das wird gleich deutlich, wenn wir fragen: Was hat Gott bewogen, die Welt zu schaffen? Die biblische Lehre von der Erschaffung der Welt, von allem, was ist, hat als entscheidende Voraussetzung die Überzeugung, dass nichts Gott genötigt hat, zu schaffen. Er hat keinen Mangel, den eine Schöpfung ausgleichen müsste. Er braucht sich nicht selbst zu verwirklichen, indem er schöpferisch tätig ist, wie das bei aller menschlichen Tätigkeit der Fall ist. Wenn Gott die Welt erschaffen hat und sie erhält und zu ihrem Ziel führt, dann nur, weil Er es will, in voller Freiheit, ohne irgendeine Notwendigkeit oder Nötigung. Es gibt nur einen Grund: weil Er gut ist; nur ein Motiv: weil Er Anteil an sich selber schenken will. Deshalb heißt es im Katechismus mit Hinweis auf drei Schriftstellen:
"Wir glauben, dass Gott die Welt nach seiner Weisheit erschaffen hat. Sie ist nicht das Ergebnis irgendeiner Notwendigkeit, eines blinden Schicksals oder des Zufalls. Wir glauben, dass sie aus dem freien Willen Gottes hervorgeht, der die Geschöpfe an seinem Sein, seiner Weisheit und Güte teilhaben lassen wollte: 'Denn du bist es, der die Welt erschaffen hat, durch deinen Willen war sie und wurde sie erschaffen (Offb 4,11). 'Herr, wie zahlreich sind deine Werke! Mit Weisheit hast du sie alle gemacht (Ps 104,24). 'Der Herr ist gütig zu allen, sein Erbarmen waltet über all seinen Werken (Ps 145,9)" (KKK 295).
Seine Barmherzigkeit waltet nicht nur über all seinen bestehenden Werken, sondern sie ist vielmehr die Wurzel, der Quellgrund aller seiner Werke: Und so erscheint in jeglichem Werk Gottes seine Barmherzigkeit, insofern sie dessen erste Wurzel ist.
Am Anfang der Bibel steht also diese alles Weitere entscheidende Gewissheit, dass Seine Güte der Ursprung von allem ist. Die Barmherzigkeit ist nicht eine gelegentliche "Gefühlsanwandlung" Gottes. Sie ist die Wurzel und der Ursprung aller Kreatur. Gegen Ende des Alten Testaments spricht das Buch der Weisheit diese Erkenntnis nochmals besonders klar aus:
"Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehasst, so hättest du es nicht geschaffen. Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von Dir ins Dasein gerufen wäre? Du schonst alles, weil es Dein Eigentum ist, Herr, Du Freund des Lebens" (Weish 11,24-26).
Hier ist der Berührungspunkt mit dem letzten Katechesenzyklus, der inzwischen als Buch erschienen ist ("Ziel oder Zufall?", Herder 2007). Eine Welt ohne Schöpfer wäre ein gnadenloses Spiel blinder Kräfte. Die wissenschaftliche Evolutionstheorie mag zutreffend sein, die Sinnfrage kann und will sie nicht beantworten (das will nur der ideologische Evolutionismus, der einen Schöpfer "wissenschaftlich" ausschließt). Der Glaube an den Schöpfergott ist der Grund für den Glauben an seine Güte, sein Wohlwollen und sein Erbarmen mit allen Geschöpfen. Nur ein freier Schöpfer, der aus seiner Güte schafft, kann sich in voller Freiheit seinen Geschöpfen zuwenden, wenn sie in Not geraten. Er kann sein Herz ihrer Not zuwenden (misericordia = ein Herz für die Misere der anderen haben). Weil seine Liebe die Quelle allen geschaffenen Seins ist, wendet sich diese Liebe auch allen Geschöpfen zu, ohne Ausnahme, und seien sie noch so fern, noch so elend und armselig.
Wie aber erklärt sich dann, was wir am Anfang gehört haben? Wenn Gott sich aller seiner Werke erbarmt, warum dann solche Befehle, wie die an Josua oder Saul, die Feinde sämtlich zu vernichten? Ist Er mit denen nicht barmherzig? Ist Gottes Barmherzigkeit an Volksgrenzen gebunden? Hört sie dort auf, wo es um die anderen Völker geht? Ist das "auserwählte Volk" privilegierter Empfänger von Gottes Erbarmen? Wir stoßen hier an eine der großen Fragen, die bis heute die Kirche bewegt. Gibt es "Erwählung"? Wenn ja, heißt das, dass "die anderen" nicht erwählt sind? Sind sie "verstoßen"? Freigegeben zur Vernichtung? Gegenstand der Verwerfung?
Schauen wir auf Abraham, den Stammvater des Glaubens. Mit ihm beginnt die Geschichte der Erwählung. Aus allen Menschen sondert Gott einen aus und gibt ihm einen Auftrag und einen Segen. Was bedeutet diese Erwählung? Absonderung? Dass die anderen verworfen, "massa damnata" sind?
Auf dem Hintergrund der ersten 11 Kapitel der Bibel sieht die Erwählung Abrahams anders aus: "Zieh weg aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen Ein Segen sollst du sein Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen" (Gen 12,1-2.3b).
Gen 3-11 ist eine drastische Darstellung der Kaskade des Bösen, die sich aus der Ur-Sünde auf die ganze Menschheit ergießt. Vom Sündenfall angefangen über den Brudermord des Kain und Abel, die wachsende Bosheit, die in der Sintflut ertränkt wird, und die dann unter Noahs Nachkommen wieder zur maßlosen Selbstdarstellung im Turmbau von Babel führt.
Auf diesem dunklen Hintergrund ist die Erwählung Abrahams ein Akt der Barmherzigkeit (vgl. Jean-Michel Poffet, La patience de Dieu. Essais sur la miséricorde, Paris 1992, S. 37). Gott erbarmt sich einer Menschheit, die auf den Abgrund zu läuft. Er setzt einen neuen Anfang. Er greift ein. Aber nicht "von außen", sondern indem er einen Menschen auswählt, damit durch ihn allen neu Barmherzigkeit zuteil wird. Erwählung ist kein Ruhekissen, keine Rettung aus einer verlorenen Masse, sondern ein Dienst an den Kranken, an allen, denen Gottes Erbarmen gilt.
In einer Szene wird dieser Dienst Abrahams besonders deutlich: dem berühmten "Gebetshandel" Abrahams mit Gott um die heidnischen Städte Sodoma und Gomorra:
"Die Männer erhoben sich von ihrem Platz und schauten gegen Sodom. Abraham wollte mitgehen, um sie zu verabschieden. Da sagte sich der Herr: Soll ich Abraham verheimlichen, was ich vorhabe? Abraham soll doch zu einem großen, mächtigen Volk werden, durch ihn sollen alle Völker der Erde Segen erlangen. Denn ich habe ihn dazu auserwählt, dass er seinen Söhnen und seinem Haus nach ihm aufträgt, den Weg des Herrn einzuhalten und zu tun, was gut und recht ist, damit der Herr seine Zusagen an Abraham erfüllen kann. Der Herr sprach also: Das Klagegeschrei über Sodom und Gomorra, ja, das ist laut geworden, und ihre Sünde, ja, die ist schwer. Ich will hinab gehen und sehen, ob ihr Tun wirklich dem Klagegeschrei entspricht, das zu mir gedrungen ist. Ich will es wissen. Die Männer wandten sich von dort ab und gingen auf Sodom zu.
Abraham aber stand noch immer vor dem Herrn. Er trat näher und sagte: Willst du auch den Gerechten mit den Ruchlosen wegraffen? Vielleicht gibt es fünfzig Gerechte in der Stadt: Willst du auch sie wegraffen und nicht doch dem Ort vergeben wegen der fünfzig Gerechten dort? Das kannst du doch nicht tun, die Gerechten zusammen mit den Ruchlosen umbringen. Dann ginge es ja dem Gerechten genauso wie dem Ruchlosen. Das kannst du doch nicht tun. Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht an das Recht halten? Da sprach der Herr: Wenn ich in Sodom, in der Stadt, fünfzig Gerechte finde, werde ich ihretwegen dem ganzen Ort vergeben. Abraham antwortete und sprach: Ich habe es nun einmal unternommen, mit meinem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin. Vielleicht fehlen an den fünfzig Gerechten fünf. Wirst du wegen der fünf die ganze Stadt vernichten? Nein, sagte er, ich werde sie nicht vernichten, wenn ich dort fünfundvierzig finde. Er fuhr fort, zu ihm zu reden: Vielleicht finden sich dort nur vierzig. Da sprach er: Ich werde es der vierzig wegen nicht tun. Und weiter sagte er: Mein Herr, zürne nicht, wenn ich weiterrede.
Vielleicht finden sich dort nur dreißig. Er entgegnete: Ich werde es nicht tun, wenn ich dort dreißig finde. Darauf sagte er: Ich habe es nun einmal unternommen, mit meinem Herrn zu reden. Vielleicht finden sich dort nur zwanzig. Er antwortete: Ich werde sie um der zwanzig willen nicht vernichten. Und nochmals sagte er: Mein Herr, zürne nicht, wenn ich nur noch einmal das Wort ergreife. Vielleicht finden sich dort nur zehn. Und wiederum sprach er: Ich werde sie um der zehn willen nicht vernichten. Nachdem der Herr das Gespräch mit Abraham beendet hatte, ging er weg, und Abraham kehrte heim" (Gen 18,16-33).
Abraham argumentiert. Er rechnet Gott vor, was die Gerechtigkeit fordert: "Sollte sich der Richter über die ganze Erde nicht ans Recht halten?" (v. 25). Er redet geradezu streng, ja hart mit Gott: "Das kannst du doch nicht tun, die Gerechten zusammen mit den Ruchlosen umbringen" (v. 25). Indem Abraham zum Fürbitter wird, wird er zu dem, was Gott ihm als Auftrag gegeben hat: zum Segen für die Vielen. Abraham soll in seinem Herzen das Erbarmen Gottes tragen. Er soll barmherzig werden wie der himmlische Vater. Gott weiht ihn ein in seine Schule der Barmherzigkeit. Noch geht Abraham nicht weit genug. Er hält bei zehn Gerechten an - und diese fanden sich nicht.
Beide, Abraham und Jeremia, versuchen eigentlich nicht, Gottes Zorn zu besänftigen, sondern sie tun, was Gott selber tun will: Sie wollen retten. Sie haben Erbarmen mit den Menschen, die auf Irrwegen gehen, und sie versuchen alles, sie davon abzubringen. Ihr Gebet bringt genau das zum Ausdruck, was Gott selber will: nicht strafen, sondern erlösen. Er will unsere Fürbitte, um sein Verzeihen schenken zu können. Am Deutlichsten wird das wohl an der anderen großen Betergestalt im Alten Testament, an Mose.
Wieder steht am Anfang eine Erwählung. Das gerettete Hebräerkind, Mose, am Königlichen Hof des Pharao erzogen, ist eines Tages nicht mehr bereit, der Unterdrückung seines eigenen Volkes zuzusehen. Er tötet einen Ägypter, der einen Hebräer, einen seiner Brüder des unterjochten Volkes, schlug. Er muss fliehen und er, der vornehme Mann vom Pharaonenhof, wird Nomade unter Nomaden in der Wüste Sinai, für lange 40 Jahre der Vorbereitung, ohne es selber zu wissen. Gott allein weiß, was Er mit ihm vorhat.
Was da, nach 40 Jahren, geschieht, ist wieder eine Initiative der Barmherzigkeit. Sie geht von Gott aus, aber sie braucht ein menschliches Instrument. Gott beruft Mose. Und auch das ist Barmherzigkeit, ganz konkret. Es ist immer ein Geschenk von Gottes Barmherzigkeit, wenn er einen Menschen besonders beruft. Und dieses Geschenk wird fruchtbar, wenn der Gerufene den Ruf annimmt. - Das gilt zum Beispiel auch von Franz Jägerstätter, von allen Heiligen. Sie sind immer ein Segen. Wir dürfen für unser Land solche Geschenke der Barmherzigkeit erbitten! Im Buch Exodus heißt es:
"Der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Jetzt ist die laute Klage der Israeliten zu mir gedrungen, und ich habe auch gesehen, wie die Ägypter sie unterdrücken. Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die Israeliten, aus Ägypten heraus! (Ex 3,7-10).
An diesem Mit-leiden Gottes mit Seinem Volk soll Mose teilhaben. Er wird dazu genug Gelegenheit bekommen, am dramatischsten in der Geschichte mit dem goldenen Kalb. Der Zorn Gottes mag uns allzu menschlich erscheinen. Ein tieferer Blick zeigt uns aber etwas anderes. Hören wir den Kern dieser Geschichte:
"Da sprach der Herr zu Mose: Geh, steig hinunter, denn dein Volk, das du aus Ägypten heraufgeführt hast, läuft ins Verderben. Schnell sind sie von dem Weg abgewichen, den ich ihnen vorgeschrieben habe. Sie haben sich ein Kalb aus Metall gegossen und werfen sich vor ihm zu Boden. Sie bringen ihm Schlachtopfer dar und sagen: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben. Weiter sprach der Herr zu Mose: Ich habe dieses Volk durchschaut: Ein störrisches Volk ist es. Jetzt lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und sie verzehrt. Dich aber will ich zu einem großen Volk machen. Da versuchte Mose, den Herrn, seinen Gott, zu besänftigen, und sagte: Warum, Herr, ist dein Zorn gegen dein Volk entbrannt? Du hast es doch mit großer Macht und starker Hand aus Ägypten herausgeführt. Sollen etwa die Ägypter sagen können: In böser Absicht hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge umzubringen und sie vom Erdboden verschwinden zu lassen? Lass ab von deinem glühenden Zorn, und lass dich das Böse reuen, das du deinem Volk antun wolltest. Denk an deine Knechte, an Abraham, Isaak und Israel, denen du mit einem Eid bei deinem eigenen Namen zugesichert und gesagt hast: Ich will eure Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel, und: Dieses ganze Land, von dem ich gesprochen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es für immer besitzen. Da ließ sich der Herr das Böse reuen, das er seinem Volk angedroht hatte" (Ex 32,7-14).
"Dein Volk, das du aus Ägypten herausgeführt hast" - Gott scheint sich von seinem Volk zu distanzieren. Er scheint Mose zu verlocken mit einem Angebot: "Dich aber will ich zu einem großen Volk machen." Es ist, als wollte Gott Mose versuchen: Mach Schluss mit diesem störrischen Volk! Du wirst es besser machen! Dein neues Volk wird anders, größer, gelungener sein!
Die jüdisch-rabbinische Exegese hat sich vor allem bei dem seltsamen Wort aufgehalten: "Jetzt lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und sie verzehrt." Seit wann muss Gott den Menschen um Erlaubnis bitten, seinen Zorn walten zu lassen? Hat denn Mose die Hand des Zornes Gottes festgehalten, sodass sich Gott seinem Griff entwinden müsste? "Lass mich" Die Rabbiner sagen, das sei wie eine Bitte, in paradoxer Form: Tu etwas, damit ich nicht strafen muss! Bestürme mich, halte mich zurück!
Moses Antwort wird genau zu dem, was Gott von ihm wollte. Drei Elemente stechen hervor: Zuerst erinnert Mose Gott daran, dass dieses halsstarrige Volk seines ist, und dass nicht Mose, sondern Er selber "mit großer Macht und starker Hand" dieses Sein Volk hat aus Ägypten herausgeführt. Dann packt er Gott gewissermaßen bei seiner Ehre: Was werden die Ägypter sagen, wenn sie sehen, wie Du Dein Volk behandelst? Welches Licht würde da auf Dich fallen? Dein Name käme in Verruf! Und drittens erinnert er Gott an Sein Versprechen: Denke an Deinen Eid, den Du Abraham und seinen Nachkommen geschworen hast. Moses bittet also Gott um nichts anderes, als was Er selber als seinen Willen bekundet hat: Dein Wille geschehe! Und so lässt Gott von seinem Zorn ab. Weil Mose sich zum Fürsprecher gemacht hat für das "halsstarrige Volk", "kann" Gott es nicht mehr verwerfen. Es bleibt fest in Gottes Treue verankert, an die Mose den Herrn erinnert. Gottes Barmherzigkeit braucht Instrumente. Mose macht sich immer mehr, immer totaler dazu. Deshalb geht er noch einen Schritt weiter in seiner Fürbitte: "Ach, dieses Volk hat eine große Sünde begangen. Götter aus Gold haben sie sich gemacht. Doch jetzt nimm ihre Sünde von ihnen! Wenn nicht, dann streich mich aus dem Buch, das du geschrieben hast" (Ex 32, 31 f.).
Mose tut, was letztlich Jesus zur Erfüllung gebracht hat: Er setzt sein eigenes Leben ein, damit sein Volk Vergebung erlangt. Mose wird so zum großen Sühner für die Sünde seines Volkes: Lieber von Gott verstoßen sein, als Sein Volk verloren gehen zu lassen! Mose kommt so weit, sein Volk mit der Liebe zu lieben, mit der Gott selber es liebt. Das wird die Sendung Jesu sein: die Sünden seines Volkes auf sich zu nehmen, bereit, für es zu sterben, aber nicht nur für die Sünden seines Volkes, sondern für die der ganzen Welt (vgl. 1 Joh 2,1-2).
Gerade letzteres wird in der Davidsgeschichte besonders eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht. Der Prophet Nathan konfrontiert David unerbittlich mit seiner Schuld (2 Sam 12,1-4). David bekennt sie ohne Wenn und Aber und ebenso klar und schnell kommt auch die Vergebung. Es ist, als warte Gott nur darauf, uns sein Erbarmen schenken zu können.
Ich schließe mit zwei Worten aus dem Propheten, die uns zeigen, wie tief das Alte Testament erfüllt ist von der Barmherzigkeit Gottes und wie sehr das Neue Testament, das was Jesus uns über die Barmherzigkeit verkündet hat, wirklich die Erfüllung des Alten Testaments ist:
"Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt, darum habe ich dir so lange die Treue bewahrt" (Jes 31,3); und "Auch wenn die Berge von ihrem Platz weichen - meine Gnade wird nie von dir weichen und der Bund meines Friedens nicht wanken" (Jes 54,10).