8. Katechese: Die Mutter der Barmherzigkeit
Salve Regina, Mater Misericordiae, Vita, Dulcedo et Spes nostra salve! Ad te clamamus, exsules filii Hevae, Ad te suspiramus, gementes et flentes, In hac lacrimarum valle. Eja ergo advocata nostra Illos tuos misericordes oculos ad nos Converte Et JESUM, benedictum fructum ventris tui Nobis post hoc exilium ostende O Clemens, O Pia, O Dulcis Virgo Maria |
Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit; unser Leben, unsere Wonne, unsere Hoffnung, sei gegrüßt! Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas, zu dir seufzen wir, trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen. Wohlan dem, unsere Fürsprecherin, wende deine barmherzigen Augen uns zu, und nach diesem Elend [d.h. diesem Exil, diesem Leben in der Fremde] zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes, O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria. |
Für mich als Dominikaner gehört es zu den besonders schönen Ordenstraditionen, dass jeden Abend zum Schluss der Komplet, des kirchlichen Nachtgebets, das Salve Regina gesungen wird. Dabei ziehen die Brüder in Prozession, im Dunkeln, nur mit Kerzenlicht, zur Muttergottesstatue. Es ist eine besonders schöne eigene Melodie, ähnlich wie die der Zisterziensermönche. Von ihr sei heute die Rede.
Robert Hupka ist im Jahr 2001 verstorben. Kurz vor seinem Tod konnte ich ihn noch einmal in seiner bescheidenen Wohnung in New York besuchen. An den Wänden, die von Archivschränken voll waren, war nur wenig Platz für Bilder, aber es gab dort eines seiner unvergleichlichen Bilder, das Bild der Mutter Gottes, der Pietà, diesem unglaublichen Werk, das Michelangelo (1564) mit 25 Jahren geschaffen hat, das heute im Petersdom steht. Wir kennen es alle. Die Muttergottes hat den Blick gesenkt. Robert Hupka war damals schon sehr schwach und lag die meiste Zeit auf seinem Bett. Ich sagte zu ihm: "Wenn du dann drüben bist, dann wird sie die Augen aufschlagen und dich anschauen." So haben wir uns verabschiedet, und ich bin sicher, sie hat ihn mit ihren barmherzigen Augen angeschaut.
Eines der schönsten Gebete der Christenheit - leider viel zu wenig bekannt und verwendet - wird bei den Sterbenden gebetet, es kann auch heute noch verwendet werden: "Profiscere, anima Christiana" - "Brich auf, christliche Seele". Im Moment des Sterbens wird gebetet, dass Maria dem Sterbenden entgegen komme und ihn mit ihren barmherzigen Augen ansehen möge. Was muss das sein, ihren Augen, ihrem Blick zu begegnen!
Wie war das, bei Bernadette Soubirous (1879) oder den drei Kindern von Fatima? Doch es sind nicht die Seher allein, es gibt ein überwältigendes Zeugnis von Menschen aller Völker, dass Maria überall, in allen Ländern der Erde als "Mutter der Barmherzigkeit" aufgesucht und geliebt wird. Weltweit lässt sich sehen, was eines der ältesten überlieferten Mariengebete sagt:
"Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir, Heilige Gottesgebärerin. Verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten, sondern errette uns jederzeit aus allen Gefahren, o du glorwürdige und gebenedeite Jungfrau, unsere Frau, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin. Führe uns zu deinem Sohne, empfiehl uns deinem Sohne, stelle uns vor deinem Sohne" (Gotteslob Nr. 31,3).
Die ältesten erhaltenen Fassungen dieses Gebets (auf Papyrus) haben eine schöne Besonderheit. Der Beginn lautet nicht "unter deinem Schutz und Schirm" sondern "unter deine Barmherzigkeit fliehen wir, Gottesgebärerin" (vgl. H. Förster, zur ältesten Überlieferung der marianischen Antiphon "Sub tuum praesidium", in: biblos. Beiträge zu Buch, Bibliothek und Schrift, Bd. 44,2, Wien 1995, 183-192). Das Wort eusplanchnía meint den guten Mutterschoß, die "Eingeweide des Wohlwollens", also das Mutterherz im vollsten Sinn: Zu deinem Mutterherzen flüchten wir, in deinem Mutterschoß bergen wir uns. Alles, was die Mutter ausmacht, ist angesprochen: ihr Blick, ihr Herz, ihr Schoß.
Bei seinem letzten Polen-Besuch sagte Papst Johannes Paul II. in Kalwaria Zebrzydowska, dem von ihm so geliebten Wallfahrtsort nahe seiner Geburtsstadt und nahe Krakau:
Wie oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Mutter des Sohnes Gottes ihre barmherzigen Augen auf die Sorgen des bekümmerten Menschen richtet und ihm die Gnade erwirkt, schwierige Probleme zu lösen, und dass er, in der Kleinheit seiner Kraft, von Staunen erfüllt wird angesichts der Kraft und der Weisheit der Göttlichen Vorsehung" (Homilie am 19. August 2002).
Das ist die Erfahrung des Papstes, der eine so tiefe, innige Beziehung zur Mutter der Barmherzigkeit hatte.
Was ist das Geheimnis Mariens? Warum berührt sie so unvergleichlich die Herzen? Ist sie uns Menschen näher als der Heilige Gott? Näher selbst als der Sohn Gottes? In einer Predigt zum Fest Mariä Geburt sagt der Heilige Bernhard von Clairvaux (1153) tatsächlich etwas in diesem Sinn. Das mag verwundern und scheint gewisse Vorurteile zu bestätigen, dass die Marienverehrung sich zwischen Gott und uns dränge und so eine Verfälschung des ursprünglich Christlichen darstelle, weil allein Christus der Mittler des Heils ist. Die Predigt des Heiligen Bernhard wird uns weiterhelfen.
Aus tiefstem Herzensgrund, mit der ganzen Liebe unseres Gemütes und aller Hingabe wollen wir diese Maria ehren, denn so ist der Wille Gottes: er wollte, dass wir alles durch Maria haben. Ja, das ist sein Wille, doch für uns. In allem und durch alles sorgt er nämlich für die Elenden: er lindert unsere Angst, weckt den Glauben, stärkt die Hoffnung, überwindet das Misstrauen, richtet den Kleinmut auf. Vor den Vater hinzutreten hattest du Angst; schon allein beim Hören erschrakst du und flohst zu den Blättern: So gab er dir Jesus als Mittler. Was würde ein solcher Sohn bei einem solchen Vater nicht erlangen? Er wird sicher um seiner Ehrfurcht willen erhört werden (Hebr 5,7), denn "der Vater liebt den Sohn" (Joh 5,20). Oder zitterst du auch vor ihm? Dein Bruder ist er und dein Fleisch, er wurde in allem in Versuchung geführt, ohne zu sündigen (Hebr 4,15), "um barmherzig zu werden" (Hebr 2,17). Ihn gab dir Maria als Bruder. Doch vielleicht erschrickst du auch bei ihm vor der göttlichen Majestät, denn obwohl er Mensch wurde, blieb er doch Gott. Willst du auch bei ihm einen Fürsprecher haben? Wende dich an Maria! Reine Menschlichkeit findest du bei Maria, nicht nur rein von jeder Befleckung, sondern auch rein, da sie nur diese Natur besitzt. Und ich möchte sagen, ohne zu zweifeln: Auch sie wird um ihrer Ehrfurcht willen erhört werden. Erhören wird doch der Sohn die Mutter, und erhören wird der Vater den Sohn. Meine lieben Söhne, das ist die Leiter für die Sünder, das meine größte Zuversicht, das der ganze Grund meiner Hoffnung! Wieso denn? Kann der Sohn etwa zurückweisen oder eine Zurückweisung erhalten? Dass er nicht hört oder nicht gehört wird - kann das beim Sohn vorkommen? Sicher keines von beiden! "Du hast", sagt der Engel, "bei Gott Gnade gefunden." (Lk 1,30) Welch ein Glück! Immer wird Maria Gnade finden, und nur Gnade ist es, was wir brauchen. Die kluge Jungfrau verlangte nicht nach Weisheit wie Salomo, nicht nach Reichtum, nicht nach Ehren, nicht nach Macht, sondern nach Gnade. Allein die Gnade ist es nämlich, durch die wir gerettet werden. (Werke Bd. VIII, S. 629)
Gott selbst will, dass wir Maria ehren, weil er wollte, dass wir alles durch sie haben. So will Er es für uns. Ist Maria also "die Quelle aller Gnaden"? Sie ist sicher nicht ihr Ursprung. Sie hat Gnade gefunden, nicht verursacht. Aber sie kann als Instrument der Gnade wirken.
Sehr schön sagt Bernhard, das Wort des Engels aufgreifend: "Du hast bei Gott Gnade gefunden." Immer wird Maria Gnade finden - und Gnade, nur Gnade, brauchen wir. Weil sie die ganz Begnadete ist, kann sie auch uns alle Gnaden erbitten. Das ist nicht nur eine theologische Gewissheit, es ist die einhellige Erfahrung des Glaubens. Beiden, der Glaubenslehre und der Glaubenserfahrung, sei daher im Folgenden nachgegangen. Dazu will ich mich in drei Schritten dem Geheimnis Mariens als Mutter der Barmherzigkeit annähern:
Zuerst erscheint ihre Erwählung als reines Werk der Barmherzigkeit Gottes, dann der Glaubensweg Mariens als "Schule der Barmherzigkeit" und schließlich ihre vollendete Mutterschaft der Barmherzigkeit, in der wir sie in allen Nöten aufsuchen können.
Denken wir heuer, im 150. Jahr der Erscheinungen von Lourdes, an die Heilige Bernadette. Nichts lag ihrer Seite vor, was die Wahl Mariens in unseren Augen begründen würde.
Warum wählt Maria Lourdes, um sich zu zeigen? Warum nicht eine bedeutende Stadt? Warum nicht in Lourdes jemanden Gebildeten, aus den "guten Familien"? Warum ein Kind ärmster Leute, die im ehemaligen Dorfgefängnis wohnen? Ein Kind, das nicht lesen und schreiben kann, und nicht einmal weiß, was die Katechismus-Antwort auf die Frage nach der Dreifaltigkeit ist? Es ist die freie, souveräne Wahl Mariens. Im Nachhinein zeigt sich darin eine tiefe Stimmigkeit. Es passt so sehr zu Gottes Handeln in der Bibel, der bevorzugt das Kleine, Unbedeutende erwählt, um die zu beschämen, die "etwas sind" und in der Welt etwas gelten. Der Blick auf Lourdes und auf Bernadette zeigt das, was das Konzil und der KKK (114) die "Analogie des Glaubens" nennen: die Erfahrung der Glaubensgeschichte erhellt den Sinn der biblischen Ereignisse und umgekehrt. Lourdes hilft mir, die Wahl Nazareth besser zu verstehen, und Bernadette die Erwählung Mariens.
Diese freie, souveräne Wahl Gottes ist etwas Wunderbares und Beglückendes, nicht das Ergebnis menschlicher Leistung, nicht durch eine Postenausschreibung, Bewerbungen, eine Jury, ein Auswahlverfahren zustande gekommen, sondern allein durch Gottes freie Wahl.
Freilich verachtet Gott all das, Vorbereitung, Bildung, Kompetenz, Begabtenförderung etc., nicht Wenn Maria Bernadette auswählt, heißt das nicht, dass sie die anderen geringschätzt. Eine Erwählung bedeutet keine Verachtung oder gar "Diskriminierung" der anderen. Die Erwählung Mariens (wie auch die Wahl Bernadettes) ist nicht "Selbstzweck", sondern zugleich Sendung. Bei wem ist das deutlicher als bei Maria? Sie ist nicht von Gott erwählt, um sich einsam eines Privilegs zu erfreuen, sondern um das Instrument des Erbarmens Gottes für alle Generationen zu sein.
Die Wahl Gottes zeigt sich besonders im Geheimnis der Immaculata. So wird sie sich Bernadette gegenüber bezeichnen: "Ich bin die Unbefleckte Empfängnis." Vom ersten Moment ihrer Existenz, vom Augenblick ihrer Empfängnis an ist sie die Begnadete. Père Marie-Eugène de l'Enfant-Jésus, der große Karmelit, dessen Seligsprechung bald erwartet wird, sagt: "Die Barmherzigkeit Gottes hat nie ein schöneres Werk gemacht als das, was sie in der Jungfrau Maria verwirklicht hat. Sie (die Barmherzigkeit Gottes) war nie freier, nie geschenkter. Hier gelten nicht die Gesetze der Gerechtigkeit. Es ist reine Barmherzigkeit, dass die Jungfrau unbefleckt empfangen ist, und dass sie diese unvergleichliche erste Gnade erhält" (La Joie de la Misericorde, hrsg. v. Yvette Périco, Ed. Nouvelle Cité, Bruyères-le-Chatel, 2008, S. 106).
Marias Erwählung ist reine Gnade, völlig ungeschuldet, souveräne Tat der Barmherzigkeit Gottes. Sie ist nicht einfach willkürlich sondern ein von Gott gesetzter Neuanfang mit einer Vorgeschichte. Im Magnificat, ihrem Lobgesang auf Gottes Erbarmen, sagt Maria: "Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht" (Lk 1,50) und sie lobt Gott dafür, dass er sich seines Knechtes Israel annimmt: "Er denkt an sein Erbarmen, das er unsern Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig" (Lk 1,54 f). Maria sieht ihre Erwählung als die Erfüllung einer uralten Verheißung, einer Hoffnung vieler Generationen. Gott löst Sein Versprechen ein und schenkt Seinem Volk Sein Erbarmen. Maria ist dieses Geschenk.
"Maria - nicht ohne Israel. Eine neue Sicht der Lehre von der Unbefleckten Empfängnis" (Herder, 2008). So heißt ein neues Buch von Gerhard Lohfink und Ludwig Weimer, zwei Theologen der "Integrierten Gemeinde". Zu Recht weisen sie darauf hin, dass Maria nie von ihrem Volk losgelöst gesehen werden kann. Gott hat sie von der Erbsünde bewahrt, aber er hat sie nicht aus der Geschichte des erwählten Volkes herausgelöst. Ihre Begnadung ist reines Geschenk, nicht losgelöst von den vielen Getreuen und Gerechten des Alten Bundes, die wie Maria, "auf die Rettung Israels" (vgl. Lk 2,25), "auf die Erlösung Jerusalems" (vgl. Lk 2,38) warteten.
Maria ist nicht zu trennen von der langen Geschichte Gottes mit Seinem Volk, von der schmerzlichen Erziehung Israels zum Hinhören auf Gottes Wort ("Höre, Israel"), zum Erkennen und Tun des Willens Gottes, letztlich zu einer Liebe, die total, alles erfassend, alles bestimmend werden sollte: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Denken und deinen Nächsten wie dich selbst" (Lk 10,27; Dtn 6,5).
Es gibt wohl kein beeindruckenderes Zeugnis für diesen radikalen, alles im Menschen beanspruchenden Weg der Liebe des Menschen zu Gott als Antwort auf eine völlig bedingungslose, grenzenlose Liebe Gottes zum Menschen. Das ist einzigartig. Einzigartig ist auch die schonungslose Offenheit, mit der die Abwege und Irrwege des menschlichen Herzens beschrieben werden, die sich dieser Liebesbeziehung entziehen wollen (wir haben davon bereits in der 2. Katechese gesprochen). Ohne die Liebesgeschichte Gottes mit Seinem Volk, ohne Sein unermüdliches Werben um eine Liebe, die immer wieder zu den Götzen abirrt und sich damit prostituiert, ohne die dramatische Vorgeschichte Israels mit der leidenschaftlichen Liebe seines Gottes wäre es nicht möglich, zu erfassen, was es um das wunderbare Geheimnis Mariens ist.
Aber Maria ist nicht einfach "das Endprodukt" einer langen Evolution. "Das es Maria gibt, ist reines Wunder" (op. Cit. S. 385). Sie ist die Morgenröte der neuen Schöpfung. In ihr leuchtet der "Morgenglanz der Ewigkeit", wie ein Kirchenlied singt.
"Tota pulchra es, Maria, et macula originalis non est in te." ("Ganz schön bist du, Maria, kein Makel der Erbsünde ist in dir.") Bruckners Vertonung dieser Antiphon ist von unbeschreiblicher Schönheit und Reinheit. Warum diese unvergleichliche Schönheit Mariens? Maria ist, wie Ida Friedericke Görres es genannt hat, "das unverdorbene Konzept", das, was der Schöpfer mit dem Menschen wollte (so der Titel eines ihrer Büchlein, aus dem Jahr 1968). In Maria schauen wir gewissermaßen den Ursprung, den ursprünglichen Plan des Schöpfers, und zugleich das Ziel, den erlösten Menschen, von dem Paulus sagt: "Er, Gott hat uns der Macht der Finsternis entrissen und uns in das Reich seines geliebten Sohnes aufgenommen" (Kol 1,13). Deshalb ist Maria so unvergleichlich anziehend, so bergend und tröstend wie keine andere menschliche Gestalt.
Zwei Einwände tauchen immer wieder auf, wenn es um Maria und ihre Verehrung geht: Wir wissen doch wenig von ihr. Das biblische Zeugnis ist schmal. Und viele stoßen sich immer wieder am affektiven, gefühlsbetonten Charakter der Marienverehrung sowie an gewissen Formen, die sie als übertrieben, ja als ungesund empfinden.
Es stimmt zweifellos: Die neutestamentlichen Aussagen über Maria sind karg - sie stehen in Kontrast zu einer überbordenden Marienfrömmigkeit, die dann als unbiblisch oder gar als heidnisch beeinflusst abgelehnt wird (etwa bei evangelischen oder evangelikalen Christen). Dazu kommt, dass die wenigen Äußerungen Jesu über seine Mutter "von auffallend herber Zurückhaltung" sind, wie Heinrich Spaemann (Drei Marien. Die Gestalt des Glaubens, Freiburg 1985, S. 15) sagt. Dagegen wirken die Ausdrücke der Volksfrömmigkeit über die Innigkeit zwischen Mutter und Sohn wie ein Kontrast: die nüchterne Bibel gegen eine übertriebene Marienfrömmigkeit. Sehen wir uns das ein wenig an. So karg die neutestamentlichen Äußerungen über Maria sind, so sehr geben sie doch einen Zugang zum Inneren der Beziehung Jesu und Mariens, die mit der "Analogie des Glaubens" durchaus tiefe Einsichten ermöglicht.
Die Marienfrömmigkeit hat etwas von der Spontaneität des Herzens. Sie ist nicht "verkopft", sondern ähnelt ein wenig der Reaktion einer Frau aus dem Volk, die einmal Jesus zuruft: "Selig der Leib, der dich getragen, und die Brust, die dich genährt hat" (Lk 11,27). Diese Frau bewundert Jesus, und sie schließt die Mutter in diese Bewunderung mit ein: Was für ein Glück muss es für die Mutter sein, einen solchen Sohn zu haben!
Jesus scheint abweisend zu reagieren: "Selig sind vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen" (Lk 11,28). Ähnlich herb klingen andere Worte Jesu, seine Mutter betreffend, etwa, als man ihm sagt, seine Mutter und seine Brüder seien draußen vor dem Haus: "Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter" (Mt 3,33-35). Noch herber das Wort des zwölfjährigen im Tempel: "Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist?" (Lk 2,49). Oder bei der Hochzeit von Kana: "Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen" (Joh 2,4).
Nun zeigt gerade die Reaktion Marias auf diese scheinbar abweisenden Worte Jesu, wie Maria ihren "Pilgerweg des Glaubens" ging. Da ist zuerst einfach das "Nicht-Verstehen", schmerzlich steht es da (vgl. Lk 2,50), aber auch ein zustimmendes Sich-Fügen: "Tut alles, was er euch sagt" (Joh 2,5) bei der Hochzeit von Kana.
Jesus verweist seine Hörer - und auch seine Mutter - auf den Willen Gottes. Darum geht es. Der Wille Gottes ist Jesu "Speise" (Joh 4,34), denn Jesu Lebensraum ist der Wille des Vaters. Dort ist sein "Zuhause", dorthin will er uns führen: "Kommt und seht!" Das aber ist auch der Weg der Mutter Jesu: "Mir geschehe nach deinem Wort!" Ihr Weg ist der Wille Gottes, ganze ungeteilte Hingabe an ihn. Für Jesus kommt das erste Gebot vor dem vierten, der Wille Gottes vor dem der Eltern.
Was aufs Erste wie eine Unbarmherzigkeit Jesu seiner Mutter gegenüber aussieht, ist in Wirklichkeit der gemeinsame Weg, in die Schule der Barmherzigkeit Gottes zu gehen. Schritt für Schritt muss Maria den Weg der "sieben Schmerzen" gehen (so die volkstümliche Meditation des schmerzlichen Weges Marias), auf dem Jesus ihr zumutet, die spontanen, natürlichen mütterlichen Reaktionen zu überwinden und in die Perspektive seiner Sendung einzutreten. Nicht dass Marias Liebe zu ihrem Sohn eine sündhafte Anhänglichkeit gewesen wäre. Wir kennen alle die trostlosen Zerrbilder einer symbiotischen Mutter-Sohn-Beziehung (wie sie in der Nachkriegsgeneration der Kriegswitwen häufig vorkamen - und heute wieder durch die oft so schwierigen Situationen der alleinerziehenden Mütter entstehen, wo die Affektivität sich in ungesunder, exklusiver Weise auf den Sohn bezieht und dieser in einer seelischen Abhängigkeit von der Mutter bleibt).
Maria hatte nicht eine solche "symbiotische" Sohnesbeziehung oder gar eine neurotische Mutter-Sohn-Fixierung, wie es etwa der Freud-Schüler Ernest Jones (1958) annahm. Nebenbei deutete er gleich auch den Zölibat als Resultat einer "ödipalen" Sohn-Mutter-Bindung (Zur Psychoanalyse der christlichen Religion, Frankfurt 1970). Dass es auch neurotische Fehlformen des Christlichen gibt, ist unbestritten. Neurosen können sich gut religiös "kostümieren". Aber sie zeigen ihren Krankheitscharakter sehr bald darin, dass sie unfruchtbar sind, ja lebensbehindernd, sogar zerstörend.
Wenn man schon mit der schwachen Laterne der Psychologie in das Leben Jesu und Marias hineinleuchten will, dann stellt man vor allem fest, dass die Beziehung von Mutter und Sohn sich als (psychologisch) gesund erweist, weil sie fruchtbar ist. Sie ist ein Weg der immer klarer bejahten und angenommenen Sendung. Sie ist ein Weg einer immer weiteren Herzenshaltung. Jesus nimmt seine Mutter in eine immer vollständigere Teilnahme an seiner Heilssendung hinein. Und ihr Ja, das am Anfang ihres Weges stand, wird immer klarer zum Ja zu Gottes Willen, der Seinem Sohn, ihrem Sohn den Weg des Leidens und des Kreuzes zumutet.
Die Volksfrömmigkeit hat das mit feinem Gespür, mit der Intelligenz des Herzens erfasst, wenn sie über die sieben Schmerzen Mariens meditiert, mit Maria leidet, ihr Leid nachfühlt (vgl. etwa das Lied "Christi Mutter stand mit Schmerzen" oder die Kreuzwegstation: "Jesus begegnet seiner Mutter").
In der Tiefe betrachtet zeigt sich die Gleichgestaltung des Herzens Mariens mit dem ihres Sohns. Sein Verlangen wird ihr Verlangen: das Heil aller Menschen. Sie hat dafür die spontanen mütterlichen Herzensneigungen zu ihrem Kind hingegeben. Sie hat seelisch ihren Sohn völlig "freigegeben", damit er seine Sendung erfüllen kann. Dazu hat sie selber zum Kreuz ja gesagt, das unvorstellbarste Opfer. Deshalb ist sie am Kreuz von Jesus zur Mutter aller seiner Jünger gemacht worden. Deshalb wurde sie unter dem Kreuz zur "Mutter der Barmherzigkeit".
Die spontanste Reaktion des Mutterherzens wäre gewesen, die zu hassen, die ihren Sohn töten, sie zumindest nicht lieben zu können. Getötet aber haben Jesus nicht in erster Linie die jüdischen Autoritäten, die seine Verurteilung durch Pontius Pilatus erwirkt haben, sondern getötet haben wir ihn: Unsere Sünden haben Mariens Sohn getötet. Daran erinnert ein erstaunlicher Text aus dem Katechismus des Konzils von Trient. Im Einklang mit dem Herzen ihres Sohnes hat Maria die, die ihn töteten, nicht gehasst, sondern für sie gelitten, und seither gilt ihre Liebe - ich wage zu sagen: unverkennbar - besonders den "armen Sündern", für die Jesus gestorben ist, auch wenn er ihretwegen, ja durch sie gestorben ist. Im Katechismus heißt es:
Diese Schuld trifft vor allem jene, die wiederholt in die Sünde zurückfallen. Denn da unsere Sünden Christus den Herrn in den Kreuzestod trieben, so "kreuzigen" tatsächlich jene, die sich in Sünden und Lastern wälzen, "soweit es auf sie ankommt, den Sohn Gottes aufs neue und treiben ihren Spott mit ihm" (Hebr 6,6) - ein Verbrechen, das bei uns noch schwerer erscheinen mag, als es von Seiten der Juden war. Denn diese hätten, wie der Apostel sagt, "den Herrn der Herrlichkeit niemals gekreuzigt, wenn sie ihn erkannt hätten" (1 Kor 2,8). Wir aber behaupten, ihn zu kennen, und dennoch legen wir gleichsam Hand an ihn, indem wir ihn durch die Tat verleugnen (Catechismus Romanus 1,5,11 = KKK 598).
Franz von Assisi schreibt in seinen Ermahnungen an die Gläubigen:
Dämonen sind nicht die, die ihn gekreuzigt haben, sondern du, der du ihn zusammen mit ihnen gekreuzigt hast und immer noch kreuzigst, indem du dich in Lastern und Sünden vergnügst (Franz v. Assisi, Admon. 5,3).
Das ist das Geheimnis der "Mutter der Barmherzigkeit". Sie ist unter dem Kreuz die "Zuflucht der Sünder" geworden, all derer, die durch ihre Sünden Jesus getötet haben, der für ihre Sünden gestorben ist, Er, "das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt".
Ich schließe mit dem Wort eines deutschen Theologen und Dogmatikers, der tief und einfühlsam versucht hat zu formulieren, was das Geheimnis der Mutter der Barmherzigkeit unter dem Kreuz ist:
Je erlösungsbedürftiger (je elender und sündhafter) ein Mensch, um so mehr Anspruch hat er auf das mütterliche Heilsvermitteln Mariens; ist sein Sündenelend noch so groß und tief, der himmlischen Mutter eignet ein Vorrecht, gerade die entscheidensten Wunder der Barmherzigkeit Gottes und Christi zu erflehen. Es eröffnet sich hier ein "Geheimnis des Erbarmens", das wir hienieden nur in etwa erahnen können; In Maria hat uns Christus nicht nur ein Vorbild oder einen weit zurückliegenden Tugendspiegel, sondern einen bis zuletzt gangbaren Weg zum Heil geschenkt: den Weg zur Mutter der Barmherzigkeit, die jedem einzelnen wirklich mit ihrer Herzenswärme begegnet und in untrennbarer Verbundenheit mit dem Gnadenwirken Christi von innen her helfen kann (Johannes Stöhr, Art. Barmherzigkeit. In: Marienlexikon Bd. 1, S. 369).
Allen Botschaften ist eines gemeinsam: die Einladung, am Werk der Erlösung mitzuwirken. Maria hat das einzigartig getan und tut es noch. Gnade ist immer auch Ermöglichung, mit Christus zu wirken. Ein Beispiel dafür ist Fatima. Gerade weil ich mir damit ein wenig schwer tue, spreche ich es an.
Gnade eröffnet den Raum des Mitwirkens des Geschöpfes. Die "theologia cordis" betrachtet bevorzugt das Mitwirken Mariens am Heilswerk ihres Sohnes, an seinem Leben und an seiner Sendung: Vom Jawort der Empfängnis bis zum Stehen beim Kreuz. Maria wird darin zum Urbild allen Mitwirkens des Geschöpfes am Wirken Gottes. Ihr Mitwirken am Werk Christi führt sie, wie kein anderes Geschöpf, mitten in das Drama von Sünde und Erlösung, in das Zentrum der Heilsgeschichte.
So schließe ich heute mit dem "Gegrüßet seist du, Maria", heute einmal ausnahmsweise in der alten Form, und denken dabei an das wunderbare Geheimnis der Barmherzigkeit:
Gegrüßet seist du, Maria,
voll der Gnade,
der Herr ist mit dir.
Du bist gebenedeit
unter den Frauen,
und gebenedeit ist
die Frucht deines Leibes, Jesus.
Heilige Maria, Mutter Gottes,
bitte für uns arme Sünder
jetzt und in der Stunde
unseres Todes. Amen.