Robert Hupka ist im Jahr 2001 verstorben. Kurz vor seinem Tod konnte ich ihn noch einmal in seiner bescheidenen Wohnung in New York besuchen. An den Wänden, die von Archivschränken voll waren, war nur wenig Platz für Bilder, aber es gab dort eines seiner unvergleichlichen Bilder, das Bild der Mutter Gottes, der Pietà, diesem unglaublichen Werk, das Michelangelo (1564) mit 25 Jahren geschaffen hat, das heute im Petersdom steht. Wir kennen es alle. Die Muttergottes hat den Blick gesenkt. Robert Hupka war damals schon sehr schwach und lag die meiste Zeit auf seinem Bett. Ich sagte zu ihm: "Wenn du dann drüben bist, dann wird sie die Augen aufschlagen und dich anschauen." So haben wir uns verabschiedet, und ich bin sicher, sie hat ihn mit ihren barmherzigen Augen angeschaut.
Eines der schönsten Gebete der Christenheit - leider viel zu wenig bekannt und verwendet - wird bei den Sterbenden gebetet, es kann auch heute noch verwendet werden: "Profiscere, anima Christiana" - "Brich auf, christliche Seele". Im Moment des Sterbens wird gebetet, dass Maria dem Sterbenden entgegen komme und ihn mit ihren barmherzigen Augen ansehen möge. Was muss das sein, ihren Augen, ihrem Blick zu begegnen!
Wie war das, bei Bernadette Soubirous (1879) oder den drei Kindern von Fatima? Doch es sind nicht die Seher allein, es gibt ein überwältigendes Zeugnis von Menschen aller Völker, dass Maria überall, in allen Ländern der Erde als "Mutter der Barmherzigkeit" aufgesucht und geliebt wird. Weltweit lässt sich sehen, was eines der ältesten überlieferten Mariengebete sagt:
"Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir, Heilige Gottesgebärerin. Verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten, sondern errette uns jederzeit aus allen Gefahren, o du glorwürdige und gebenedeite Jungfrau, unsere Frau, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin. Führe uns zu deinem Sohne, empfiehl uns deinem Sohne, stelle uns vor deinem Sohne" (Gotteslob Nr. 31,3).
Die ältesten erhaltenen Fassungen dieses Gebets (auf Papyrus) haben eine schöne Besonderheit. Der Beginn lautet nicht "unter deinem Schutz und Schirm" sondern "unter deine Barmherzigkeit fliehen wir, Gottesgebärerin" (vgl. H. Förster, zur ältesten Überlieferung der marianischen Antiphon "Sub tuum praesidium", in: biblos. Beiträge zu Buch, Bibliothek und Schrift, Bd. 44,2, Wien 1995, 183-192). Das Wort eusplanchnía meint den guten Mutterschoß, die "Eingeweide des Wohlwollens", also das Mutterherz im vollsten Sinn: Zu deinem Mutterherzen flüchten wir, in deinem Mutterschoß bergen wir uns. Alles, was die Mutter ausmacht, ist angesprochen: ihr Blick, ihr Herz, ihr Schoß.
Bei seinem letzten Polen-Besuch sagte Papst Johannes Paul II. in Kalwaria Zebrzydowska, dem von ihm so geliebten Wallfahrtsort nahe seiner Geburtsstadt und nahe Krakau:
Wie oft habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Mutter des Sohnes Gottes ihre barmherzigen Augen auf die Sorgen des bekümmerten Menschen richtet und ihm die Gnade erwirkt, schwierige Probleme zu lösen, und dass er, in der Kleinheit seiner Kraft, von Staunen erfüllt wird angesichts der Kraft und der Weisheit der Göttlichen Vorsehung" (Homilie am 19. August 2002).
Das ist die Erfahrung des Papstes, der eine so tiefe, innige Beziehung zur Mutter der Barmherzigkeit hatte.
Was ist das Geheimnis Mariens? Warum berührt sie so unvergleichlich die Herzen? Ist sie uns Menschen näher als der Heilige Gott? Näher selbst als der Sohn Gottes? In einer Predigt zum Fest Mariä Geburt sagt der Heilige Bernhard von Clairvaux (1153) tatsächlich etwas in diesem Sinn. Das mag verwundern und scheint gewisse Vorurteile zu bestätigen, dass die Marienverehrung sich zwischen Gott und uns dränge und so eine Verfälschung des ursprünglich Christlichen darstelle, weil allein Christus der Mittler des Heils ist. Die Predigt des Heiligen Bernhard wird uns weiterhelfen.
Aus tiefstem Herzensgrund, mit der ganzen Liebe unseres Gemütes und aller Hingabe wollen wir diese Maria ehren, denn so ist der Wille Gottes: er wollte, dass wir alles durch Maria haben. Ja, das ist sein Wille, doch für uns. In allem und durch alles sorgt er nämlich für die Elenden: er lindert unsere Angst, weckt den Glauben, stärkt die Hoffnung, überwindet das Misstrauen, richtet den Kleinmut auf. Vor den Vater hinzutreten hattest du Angst; schon allein beim Hören erschrakst du und flohst zu den Blättern: So gab er dir Jesus als Mittler. Was würde ein solcher Sohn bei einem solchen Vater nicht erlangen? Er wird sicher um seiner Ehrfurcht willen erhört werden (Hebr 5,7), denn "der Vater liebt den Sohn" (Joh 5,20). Oder zitterst du auch vor ihm? Dein Bruder ist er und dein Fleisch, er wurde in allem in Versuchung geführt, ohne zu sündigen (Hebr 4,15), "um barmherzig zu werden" (Hebr 2,17). Ihn gab dir Maria als Bruder. Doch vielleicht erschrickst du auch bei ihm vor der göttlichen Majestät, denn obwohl er Mensch wurde, blieb er doch Gott. Willst du auch bei ihm einen Fürsprecher haben? Wende dich an Maria! Reine Menschlichkeit findest du bei Maria, nicht nur rein von jeder Befleckung, sondern auch rein, da sie nur diese Natur besitzt. Und ich möchte sagen, ohne zu zweifeln: Auch sie wird um ihrer Ehrfurcht willen erhört werden. Erhören wird doch der Sohn die Mutter, und erhören wird der Vater den Sohn. Meine lieben Söhne, das ist die Leiter für die Sünder, das meine größte Zuversicht, das der ganze Grund meiner Hoffnung! Wieso denn? Kann der Sohn etwa zurückweisen oder eine Zurückweisung erhalten? Dass er nicht hört oder nicht gehört wird - kann das beim Sohn vorkommen? Sicher keines von beiden! "Du hast", sagt der Engel, "bei Gott Gnade gefunden." (Lk 1,30) Welch ein Glück! Immer wird Maria Gnade finden, und nur Gnade ist es, was wir brauchen. Die kluge Jungfrau verlangte nicht nach Weisheit wie Salomo, nicht nach Reichtum, nicht nach Ehren, nicht nach Macht, sondern nach Gnade. Allein die Gnade ist es nämlich, durch die wir gerettet werden. (Werke Bd. VIII, S. 629)
Gott selbst will, dass wir Maria ehren, weil er wollte, dass wir alles durch sie haben. So will Er es für uns. Ist Maria also "die Quelle aller Gnaden"? Sie ist sicher nicht ihr Ursprung. Sie hat Gnade gefunden, nicht verursacht. Aber sie kann als Instrument der Gnade wirken.
Sehr schön sagt Bernhard, das Wort des Engels aufgreifend: "Du hast bei Gott Gnade gefunden." Immer wird Maria Gnade finden - und Gnade, nur Gnade, brauchen wir. Weil sie die ganz Begnadete ist, kann sie auch uns alle Gnaden erbitten. Das ist nicht nur eine theologische Gewissheit, es ist die einhellige Erfahrung des Glaubens. Beiden, der Glaubenslehre und der Glaubenserfahrung, sei daher im Folgenden nachgegangen. Dazu will ich mich in drei Schritten dem Geheimnis Mariens als Mutter der Barmherzigkeit annähern:
Zuerst erscheint ihre Erwählung als reines Werk der Barmherzigkeit Gottes, dann der Glaubensweg Mariens als "Schule der Barmherzigkeit" und schließlich ihre vollendete Mutterschaft der Barmherzigkeit, in der wir sie in allen Nöten aufsuchen können.