5. Katechese: Paulus: Ich habe Barmherzigkeit erfahren
Beginnen wir mit einem Wort des Apostels Paulus: "Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus Ich danke dem, der mir Kraft gegeben hat: Christus Jesus, unserem Herrn. Er hat mich für treu gehalten und in seinen Dienst genommen, obwohl ich ihn früher lästerte, verfolgte und verhöhnte. Aber ich habe Erbarmen gefunden, denn ich wusste in meinem Unglauben nicht, was ich tat. So übergroß war die Gnade unseres Herrn, die mir in Christus Jesus den Glauben und die Liebe schenkte.
Das Wort ist glaubwürdig und wert, dass man es beherzigt: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der erste. Aber ich habe Erbarmen gefunden, damit Christus Jesus an mir als erstem seine ganze Langmut beweisen kann, zum Vorbild für alle, die in Zukunft an ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen. Dem König der Ewigkeit, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einzigen Gott, sei Ehre und Herrlichkeit in alle Ewigkeit. Amen." (1 Tim 1,5.12-17).
Paulus beginnt im Brief mit einem Wunsch, der zunächst seinem Schüler Timotheus gilt, sicher auch uns allen: "Paulus, Apostel Christi Jesu durch den Auftrag Gottes, unseres Retters, nach Christi Jesus, unserer Hoffnung, an Timotheos, seinen echten Sohn durch den Glauben. Gnade, Erbarmen und Friede von Gott, dem Vater, und Christus Jesus, unserem Herrn." (1 Tim 1,1-2).
Paulus sieht sich als einer, der Erbarmen erfahren hat und deshalb davon Zeugnis geben kann. Das Zeugnis ist ganz persönliche und zugleich universales, weil es alle Menschen betrifft. "Das Wort ist glaubwürdig und wert, dass man es beherzigt: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder [alle Sünder] zu retten." Und er fügt ganz persönlich hinzu: "Von ihnen [den Sündern] bin ich der Erste. Ich habe Erbarmen gefunden, damit Christus Jesus an mir als Erstem seine ganze Langmut beweisen konnte" (1 Tim 1,15-16).
Ich möchte über diese beiden Dimensionen nachdenken: Die persönliche Erfahrung des Apostels und seine Lehre als Apostel der Heiden, als Lehrer der Völker. Paulus' eigene Erfahrung ist "sozusagen ein Anschauungsunterricht für alle Menschen, damit alle Mut fassen, sich auf Gottes Barmherzigkeit einzulassen" (P. Norbert Baumert). Hören wir also auf das Zeugnis des Apostels Paulus, um Mut zu fassen, uns auf die Barmherzigkeit Gottes einzulassen. Wir haben das große Glück, von Paulus ein direktes Zeugnis zu haben. Wir kennen seine Briefe und dort findet sich manch Autobiographisches. In der Apostelgeschichte haben wir das Zeugnis des hl. Lukas, seines Begleiters.
Ich muss hier methodisch etwas vorwegschicken für die, die sich mit dem Studium der Bibelwissenschaften befasst haben. Manche werden verwundert sein, dass ich einfach aus dem 1. Timotheusbrief als Paulus-Zeugnis zitiere. Es gibt hier andere Sichtweisen, manche protestantische und katholische Exegeten, vertreten die Ansicht, dass die so genannten Pastoralbriefe, die späten Briefe an die beiden Apostelschüler Timotheus und Titus, nicht von Paulus selber geschrieben seien, sondern ihm später in den Mund bzw. gewissermaßen in die Feder gelegt wurden. Manche meinen, dass auch der Epheserbrief und der Kolosserbrief nicht direkt vom Apostel stammen, sondern von seinem Schülerkreis.
Grundsätzlich ist das kein Problem für den Glauben, denn entscheidend ist: Diese Schriften stehen alle im Kanon der Heiligen Schrift, d.h. die Kirche erkennt in ihnen vom Heiligen Geist inspirierte verbindliche Worte. Deshalb begrüßen und bedanken wir sie bei der Lesung im Gottesdienst als Wort Gottes. Das ist der sichere Glaube der Kirche: Diese Briefe gehören zum Kanon der Heiligen Schrift, sind deshalb für uns authentische, echte Überlieferung des Wortes Gottes und für uns verbindlich. Es ist aber kein Dogma, ob diese Briefe wirklich von Paulus sind oder von seinen Schülern. Ich nehme mir persönlich schon seit langem die Freiheit, anzunehmen, dass sie von Paulus sind. Wenn jemand aus wissenschaftlichen Argumenten anderer Meinung ist, steht das frei, aber ist sicher nicht verpflichtend. Wir haben jedenfalls keine wissenschaftliche Gewissheit.
Paulus schreibt diese späten Briefen an Timotheus und Titus, während er im Gefängnis ist. Er weiß, dass sein Ende bevorsteht, die Zeit seiner Auflösung gekommen ist. "Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, den Glauben bewahrt" (2 Tim 4,7). In dieser Situation hat er große Sorge um die Zukunft der Gemeinden. In der letzten Phase seines Lebens schaut er auf sein Werk, wie es in den Gemeinden weitergeht. Er gibt Weisungen, wie die Hirten zu handeln haben, wie sie auszuwählen sind, welche Aufgaben sie haben. Mich beeindruckt in diesen Briefen zutiefst, wie der Apostel hier die letzten Sorgen seines irdischen Weges den beiden geliebten Schülern anvertraut.
Verlassen wir das Ende des Lebens des Apostels und gehen wir zum Anfang, seiner Berufung, zu dem Moment zurück, wo Christus in das Leben des Apostels eintritt. Durch diese Begegnung ist sein Leben grundlegend verändert worden.
Wir haben mehrere Berichte über dieses Ereignis. Das ist verständlich, wenn jemand eine intensive Glaubenserfahrung gemacht hat, erzählt er darüber und setzt jedes Mal ein bisschen andere Akzente, betont noch etwas Neues. In der Apostelgeschichte wird die Bekehrungsgeschichte dreimal erzählt. Im Brief an die Gemeinden in Galatien, an die Galater, haben wir seine eigene Handschrift. Da berichtet er selber, wie er zu Christus gekommen ist:
"Ihr habt doch gehört, wie ich früher als gesetzestreuer Jude gelebt habe, und wisst, wie maßlos ich die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten suchte. In der Treue zum jüdischen Gesetz übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk, und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen unserer Väter ein. Als aber Gott, der mich schon im Mutterleib auserwählt und durch seine Gnade berufen hat, mir in seiner Güte seinen Sohn offenbarte, damit ich ihn unter den Heiden verkündige, da zog ich keinen Menschen zu Rate; ich ging auch nicht sogleich nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern ich zog mich nach Arabien zurück und kehrte dann wieder nach Damaskus zurück. Drei Jahre später ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennen zu lernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. Von den anderen Aposteln habe ich keinen gesehen, nur Jakobus, den Bruder des Herrn. Was ich euch hier schreibe, Gott weiß, dass ich nicht lüge. Danach ging ich in das Gebiet von Syrien und Zilizien. Den Gemeinden Christi in Judäa aber blieb ich persönlich unbekannt, sie hörten nur: Er, der uns einst verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben, den er früher vernichten wollte. Und sie lobten Gott um meinetwillen" (Gal 1,13-24).
Saulus war vor seiner Bekehrung zum Apostel Paulus kein tief in Sünden verstrickter Mensch, sondern ein glaubenseifriger Jude: "In der Treue zum jüdischen Gesetz übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein" (Gal 1,14). Paulus war ein vorbildlicher Jude: Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, lebte als Pharisäer nach dem Gesetz, verfolgte voll Eifer die Kirche und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz vorschreibt" (Phil 3,5f).
Was war seine Bekehrung? Wieso beschreibt er sie später, am Ende seines Lebens, er habe "Barmherzigkeit erfahren"? Was ist für Paulus "Barmherzigkeit"? Das lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Jesus Christus. Jesus, der Christus, Gottes Sohn ist für ihn die Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes. Seit er ihm begegnet ist, ihn erkannt hat, ist sein Leben ein grundlegend anderes geworden. Ihm begegnet zu sein, ist der Neubeginn in seinem Leben.
Nun weiß der Apostel, dass das nicht seine Leistung ist. Er hat es nicht verdient, nicht "er-studiert" und ist auch nicht durch das Werk von christlichen Missionaren gläubig geworden, sondern allein durch die Barmherzigkeit Gottes selbst. Wie sehr muss Paulus das immer wieder betonen! Ich zitiere den Anfang des Galaterbriefes: "Paulus, Apostel, nicht von Menschen, auch nicht durch einen Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, der ihn von den Toten auferweckt hat" (Gal 1,1). Ganz energisch und entschieden sagt er: "Ich erkläre euch, Brüder: Das Evangelium, das ich verkündigt habe, stammt nicht von Menschen. Ich habe es ja nicht von einem Menschen übernommen oder gelernt, sondern durch die Offenbarung Jesu Christi empfangen" (Gal 1,12). Die entscheidende Wende im Leben des Apostels war das, was er "Offenbarung" nennt: "Gott selbst hat mir seinen Sohn offenbart" (Gal 1,16).
Das erinnert an eine Stelle aus dem Matthäusevangelium. Als Petrus zu Christus sagt: "Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes", da antwortet Jesus: "Selig bist du, Simon Bar Jona, denn nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist" (Mt 16,17). Ähnlich sagt Paulus er habe "nicht Fleisch und Blut" zu Rate gezogen, sondern sei in die Einsamkeit nach Arabien gegangen. Es ist nicht Fleisch und Blut, nicht menschliche Weisheit, nicht menschliche Klugheit, sondern eine Offenbarung Gottes. Paulus hat durch die Selbstmitteilung Gottes, durch die Offenbarung erkannt, dass Jesus der Christus ist.
Ich hatte in meiner Studienzeit in Frankreich einen Dominikanerprofessor für Neues Testament, jüdischer Herkunft, François Dreyfus (1999). - Einmal hat ihn ein Mitbruder gefragt: "Warum schlurfst du denn immer so?" Worauf er ihm antwortete: "Weißt du, meine Väter sind vierzig Jahre durch die Wüste durch die Wüste gehatscht". - Er hat einmal im Blick auf seine eigene Bekehrung seinen Weg zu Christus, zu Jesus als den Messias Israels und dem Sohn des lebendigen Gottes gesagt: "Man muss auf seinem geistlichen Weg schon dasselbe erleben wie ein Heiliger Paulus, um die enorme Schwierigkeit ermessen zu können, die der Glaube an das Mysterium der Inkarnation für einen gläubigen Juden darstellt" (Jésus savait-il qu'il était Dieu?, Paris 1984, 63, Anmerkung 16; Zitat in meiner Christologie, "Gott sandte seinen Sohn", Paderborn 2002, 62). Was muss Paulus für ein inneres Hindernis überwunden haben, um sagen zu können, ich glaube an Gott den Vater und den einen Herrn Jesus Christus, ohne mit dem Glauben an den einen Gott in Schwierigkeiten zu geraten.
Dass Jesus der Sohn Gottes ist, konnte Paulus sich nicht selber ausdenken. Als er Ihn aber erkannt hatte, war klar: Es gibt für ihn nur eine Mitte in seinem Leben, das ist Er, Christus.
So radikal seine Verfolgung der Kirche war - zwei Mal sagt er, er wollte sie vernichten -, so radikal war seine Zuwendung zu Christus in diesem Moment an. Jesus war von jetzt an die Mitte seines Lebens. Immer wieder kommt er in seinen Briefen darauf zurück. Das ist der ganze Inhalt, die Freude und Dynamik seines Lebens. Im Brief an die Gemeinde von Philippi hat Paulus das in überschwänglichen Worten gesagt:
"Doch was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi Willen als Verlust erkannt. Ja noch mehr: ich sehe alles als Verlust an, weil die Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn, alles übertrifft. Seinetwegen habe ich alles aufgegeben und halte es für Unrat, um Christus zu gewinnen und in ihm zu sein. Nicht meine eigene Gerechtigkeit suche ich, die aus dem Gesetz hervorgeht, sondern jene, die durch den Glauben an Christus kommt, die Gerechtigkeit, die Gott aufgrund des Glaubens schenkt. Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinem Leiden; sein Tod soll mich prägen. So hoffe ich, auch zur Auferstehung von den Toten zu gelangen. Nicht, dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin. Brüder, ich bilde mir nicht ein, dass ich es schon ergriffen hätte. Eines aber tue ich: Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist. Das Ziel vor Augen, jage ich nach dem Siegespreis: der himmlischen Berufung, die Gott uns in Christus Jesus schenkt" (Phil 3,7-14).
"Kehricht", "Unrat" ist ihm alles, wenn er es mit der Erkenntnis Christi vergleicht. Aber diese Erkenntnis ist nicht nur eine Sache des Verstandes, obwohl der natürlich auch eine Rolle dabei spielt. Diese Erkenntnis erfasst Paulus ganz, von jetzt an will er in Christus sein. Er ist von Christus ergriffen, Christus in lebt ihm und er in Christus. Im Galaterbrief sagt er das mit eindringlichen Worten: "Ich bin mit Christus gekreuzigt worden, nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in dieser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat"(Gal 2,19-20).
Paulus hat Jesus wahrscheinlich nicht persönlich erlebt, obwohl es vielleicht in Jerusalem möglich gewesen wäre. Aber er hat sicher von ihm gehört, und wie die Mehrheit der religiösen Elite hat er ihn als einen falschen Propheten abgelehnt.
Sein Lehrer Gamaliel dagegen hat den Rat gegeben: "Wenn die Sache von Menschen ist, wird sie von selber zusammenbrechen, wenn sie von Gott ist, dann wollen wir nicht gegen sie kämpfen" (vgl. Apg 5,34f). Paulus verfolgt entschieden die neue Lehre und ist daher gegen ihren Gründer, gegen Jesus. Für ihn ist klar, dass diese Lehre nicht von Gott kommen kann. Klar ist das für ihn bis zu dem Tag, da ihn der Urheber dieser Lehre selber anspricht: "Saul, Saul, warum verfolgst du mich?" - "Wer bist du, Herr?" - "Ich bin Jesus, den du verfolgst" (Apg 9,4ff). Jesus ist der eigentlich Verfolgte.
Das ist bis heute so. Die Kirche wird immer wieder verfolgt, wie damals von Paulus. Sie wird oft kritisiert und es gibt immer wieder Gründe, sie zu kritisieren, ihr auch Vorwürfe zu machen. Oft aber wird sie und werden Christen um des Glaubens willen verfolgt. Jesus sagt: "Saul. Saul, warum verfolgst du mich?", und das gilt bis heute.
Mit einer nie mehr zu vergessenden Gewissheit erfasst Paulus das, oder besser er wird erfasst: "Er hat mich geliebt und sich für mich hingegeben", nicht abstrakt, aus Liebe zur Menschheit, sondern ganz direkt: mich. Weil er mich persönlich geliebt hat, hat er sich für mich hingegeben. Das ist die Liebe Christi, "die alle Erkenntnis übersteigt" (Eph 3,19). Sie gilt gerade ihm, dem geringsten unter den Aposteln, der von sich sagt: "Ich bin nicht wert, Apostel genannt zu werden, weil ich die Kirche Gottes verfolgt habe" (1 Kor 15,9).
Diese ganz persönliche, einmalige Erfahrung der Zuwendung Gottes an Paulus ist keine private Angelegenheit. Das gilt auch für unsere Situation in Österreich: Wir müssen lernen, zwischen persönlich und privat zu unterscheiden. Glaube und Religion sind etwas ganz Persönliches, aber nicht Privatsache. Sie betreffen immer auch die anderen, uns als Gemeinschaftswesen. Paulus hat Christus ganz persönlich erfahren, aber nicht für sich alleine, sondern wie er sagt: "damit ich ihn den Heiden verkünde", also um gesendet zu werden. Was Paulus hier für sich persönlich sagt, sagt er ein anderes Mal für die ganze Kirche: "Christus hat sie [die Kirche] wie eine Braut geliebt und sich für sie hingegeben" (Eph 5,25). Christus liebt die Kirche, auch heute, so wie sie ist, auch wenn manches Menschliche in der Kirche schmerzhaft ist. Das gilt letztlich für alle Menschen. Wie Gott mit Paulus Erbarmen gehabt hat, so will er, "dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen" (1 Tim 2,4). Es ist der Wille Gottes, dass alle Menschen gerettet werden, indem sie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.
Paulus sieht im Willen Gottes, dass alle Menschen gerettet werden, die tiefste Quelle der göttlichen Barmherzigkeit. Paulus selber weiß sich eingebunden in den großen Plan Gottes. Er entdeckt in seiner Berufung und in seiner Sendung, dass Gott ihn in diesen Plan eingefügt hat. In diesem "Gnadenplan" spielt Paulus eine wichtige Rolle. Er ist selbst zum Werkzeug dieses Plans geworden. Es wäre jetzt sehr verlockend, ausführlicher auf diesen Plan einzugehen, denn darin zeigt sich die große Vision des Apostels Paulus. Gott führt die Geschichte und hat mit ihr einen Plan, den er auf Wegen, die für uns oft unbegreiflich sind, verwirklicht.
Dazu gibt es bei Paulus einige bedeutungsvolle Texte, die manchen aus dem Stundengebet vertraut sein werden. Der Hymnus aus dem Epheserbrief (Eph 1) wird am Montag in der Vesper gebetet wird, am Mittwoch der Hymnus aus dem Kolosserbrief (Kol 1), und am Samstag, als Vorabend zum Sonntag, der Hymnus aus dem Philipperbrief. Vermutlich sind es Lieder und Gesänge, die die frühe Kirche schon gesungen hat, die Paulus vielleicht auch schon vorgefunden hat. Er bringt sie auf wunderbare Weise in seine Briefe ein, fast möchte ich sagen, er singt sie vor.
Sie beginnen meistens wie das typische jüdische Gebet mit einer Broche, einer Segnung und Preisung. So heißt es etwa im Epheserbrief:
"Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: / Er hat uns mit allem Segen seines Geistes gesegnet / durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel.
Denn in ihm hat er uns erwählt vor der Erschaffung der Welt, / damit wir heilig und untadelig leben vor Gott;
Er hat uns aus Liebe im Voraus dazu bestimmt, / seine Söhne zu werden durch Jesus Christus / und nach seinem gnädigen Willen zu ihm zu gelangen,
zum Lob seiner herrlichen Gnade. / Er hat sie uns geschenkt in seinem geliebten Sohn;
durch sein Blut haben wir die Erlösung; / die Vergebung der Sünden nach dem Reichtum seiner Gnade. Durch sie hat er uns mit aller Weisheit und Einsicht reich beschenkt
Und hat uns das Geheimnis seines Willens kundgetan, / wie er es gnädig im voraus bestimmt hat: Er hat beschlossen, die Fülle der Zeiten heraufzuführen, / in Christus alles zu vereinen, alles, was im Himmel und auf Erden ist.
Durch ihn sind wir auch als Erben vorherbestimmt und eingesetzt / nach dem Plan dessen, der alles so verwirklicht, / wie er es in seinem Willen beschließt;
Wir sind zum Lob seiner Herrlichkeit bestimmt, / die wir schon früher auf Christus gehofft haben" (Eph 1,3-14).
Was Paulus bei seiner Bekehrung widerfahren ist, dass Christus ihn erwählt, gerufen, gesegnet hat, ist keine Ausnahme, sondern das, was Gott uns allen zugedacht hat. Darum heißt es in diesen Hymnen ständig "wir". Er hat uns erwählt, uns mit allem Segen seines Geistes gesegnet, uns in Liebe vorausbestimmt, seine Söhne zu werden, um zu ihm zu gelangen. Er hat uns durch sein Blut Erlösung geschenkt, uns das Geheimnis seines Willens kundgetan. Aber wer sind "wir" in diesen Hymnen? Ist das eine kleine Schar von Erwählten oder Erleuchteten aus der großen "Masse der Verlorenen" (massa damnata)? Wer sind wir in diesen Texten? Nun spricht Paulus zweifellos die Gläubigen an, die wie er die Gnade der Christusbegegnung hatten. Das ist ein großes Geschenk. Es ist das "Wir" der Kirche, das aber nicht abgeschlossen ist.
Es ist nicht ein "Wir" der Isolation, sondern der Berufung. So wie Paulus die Gnade bekommen hat, um Apostel der Heiden zu sein, so haben wir die Gnade des Glaubens bekommen, um Zeugen zu sein. Das ist der Heilsplan Gottes. Der Apostel bezeichnet das mit dem Wort eudokia, mit demselben Wort, das die Engel zu Weihnachten verwenden, "die Menschen seines Wohlgefallens". Eudokia, das ist "der gnädige Ratschluss Gottes" (kata ten eudokian tou), der alle Menschen umfasst. Alle Menschen aller Zeiten sind im Ratschluss Gottes angesprochen, und Gott will, dass alle gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Deshalb heißt es in diesem Hymnus, Gott will "alles in Christus wieder unter ein Haupt zusammenzufassen (anakephalaiosastai), alles in Christus wieder vereinen, das Himmlische und das Irdische (Eph 1,9-10). Im Lateinischen heißt es: omnia in christo instaurare - "alles in Christus erneuern". Das war das Motto, das Papst Pius XI. in Anlehnung an das Wort des Apostels als missionarisches Ziel der Kirche gewählt hat. Es war auch das Motto der "katholischen Aktion" in ihren Anfängen. Wir müssen es heute dringend neu bedenken.
Wagen wir das zu glauben? Wagen wir diese gewaltige Perspektive des Apostel Paulus auch wirklich im Herzen zu tragen? Können wir diese Perspektive einnehmen, dass Christus alles unter das Haupt zusammenfassen will? Sehen wir Christus wirklich als das Haupt der Menschheit, als die Mitte der Geschichte? Ich weiß, es ist nicht leicht anzunehmen. Im Jahr 2000 hat die Glaubenskongregation, damals unter Kardinal Ratzinger, ein Dokument veröffentlicht, das viel Diskussion ausgelöst hat, es heißt "Christus Dominus". Es geht in diesem Dokument um die Einzigkeit Christi und die Einzigkeit der Kirche. Das ist immer wieder Anstoß und Ärgernis. Ich kann verstehen, dass manche Theologen in Asien damit Schwierigkeiten haben. Kann man wirklich sagen, dass Christus der einzige Mittler ist, wo in ganz Asien drei Prozent Christen sind. Haben die übrigen 97 Prozent keine Heilswege? Ist nur Christus der Heilsmittler? Ist das nicht ein Maximalanspruch für eine Minorität, wie sie die Christen in Asien sind? Vergessen wir nicht, dass Paulus dies zu einer Zeit geschrieben hat und die Gemeinden dies gesungen haben, als die Juden eine kleine und die Christen noch eine viel kleinere Minderheit waren. So wenige haben so gewaltige Worte gesungen.
Blicken wir ein wenig in den großen Hymnus des Apostels im Kolosserbrief:
"Dankt dem Vater mit Freude! Er hat euch fähig gemacht, Anteil zu haben am Los der Heiligen, die im Licht sind.
Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes.
Durch ihn haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden.
Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, / der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.
Denn in ihm wurde alles erschaffen / im Himmel und auf Erden, / das Sichtbare und das Unsichtbare, / Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; / alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, / in ihm hat alles Bestand.
Er ist das Haupt des Leibes, / der Leib aber ist die Kirche. / Er ist der Ursprung, / der Erstgeborene der Toten; / so hat er in allem den Vorrang.
Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, / um durch ihn alles zu versöhnen.
Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, / der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut" (Kol 1,12-20).
Das ist wieder eine gewaltige Schau, aber von einer kleinen Schar, einer winzigen Minorität. Waren sie größenwahnsinnig, oder waren sie die Träger einer großen Hoffnung, die allen Menschen zugedacht ist? "Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen". - Universaler kann Christus nicht mehr gesehen werden: Alles ist in ihm, durch ihn, auf ihn hin geschaffen. Alles hat in ihm Bestand. Er ist "das Herz der Welt", das Alpha und Omega des Kosmos. Wir können das nicht ernst, nicht wörtlich genug nehmen. Das ist keine fromme Bildrede: wirklich alles hat in Christus Bestand. "Er trägt das All durch sein machtvolles Wort" (Hebr 1,3).
Diese gewaltige Sicht wird von Paulus sofort konkret auf einen Punkt hingeführt: Christus ist immer untrennbar vom Kreuz. Dort findet Paulus die Mitte. Er selber hat erfahren, dass Christus im Kreuz zu finden ist: Er hat mich geliebt, sich für mich hingegeben und ist für mich am Kreuz gestorben. Der Weg, auf dem die Barmherzigkeit Gottes zu allen Menschen kommt, ist das Kreuz. Es steht in der Mitte des Heilsplanes Gottes. "Durch sein Blut hat er die Welt versöhnt". In keinem der Hymnen des Apostels kommt das tiefer zum Ausdruck als im Hymnus des Philipperbriefes:
"Er war Gott gleich, / hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave / und den Menschen gleich. / Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich / und war gehorsam bis zum Tod, / bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle überhöht / und ihm den Namen verliehen, / der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde / ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: / 'Jesus Christus ist der Herr - / zur Ehre Gottes, des Vaters" (Phil 2,5-11).
Man stelle sich vor: Etwa zehn Jahre nach Jesu Tod am Kreuz wird in einer christlichen Gemeinde im Gottesdienst ein Lied gesungen, das unzweifelhaft Jesus als gottgleich feiert ("Er war Gott gleich" das heißt in Gottesgestalt), der Mensch geworden ist, indem er sich selbst entäußert hat, Knechtsgestalt, ein Menschsein angenommen hat, uns gleich. Sein Weg ging hinab bis zum Äußersten der Erniedrigung, in Gehorsam ging er bis zum Tod am Kreuz. Nur auf diesem Weg ist er der Herr, vor dem jedes Knie sich beugen wird, ohne Ausnahme, damit alle ihn als den Kyrios, den Herrn bekennen, "zur Ehre Gottes, des Vaters".
Jesus hat von Gott "den Namen über allen Namen" erhalten, d.h. den Gottesnamen selbst.
Jesus, der sich im Gehorsam gedemütigt hat bis zum Tod des Kreuzes, ist Gott. Sein Name ist Gottes heiligster Name. Christus ist der einzige Mittler, weil er der Sohn Gottes ist. Das ist vom ersten Moment der Bekehrung an die große Erkenntnis des Paulus: Gott hat seinen Sohn in Christus offenbart (Gal 1,16). Aber noch einmal: diese Erkenntnis ist alles eher als abstrakt. Sie bewirkt ein tiefes Verlangen in Paulus, immer mehr Christus gleichgestaltet zu werden, nur mehr Ihn zu kennen und zu lieben: "Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinem Leiden" (Phil 3,10). Paulus will auch dem Tod Christi "gleichgestaltet" werden (ebenda). Er will ganz von Christus geprägt werden. Christi Leben und Leiden soll seines werden, damit er auch an der Auferstehung Christi teilhaben wird können. Christus selber ist auch das Modell des Verhaltens der Christen untereinander. Mehr noch als nur das Vorbild soll er das Model sein, nach dem das Leben der Christen von innen her geformt wird.
So leitet Paulus den Philipperhymnus mit den Worten ein: "Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus Jesus entspricht" (wörtlich: "solche Gesinnung habt untereinander, wie sie auch in Christus Jesus war", Phil 2,5). Die Gesinnung, die in Christus war, war im Apostel besonders tief ausgeprägt. An ihm konnten die Gläubigen wie in einem "Anschauungsunterricht" die Barmherzigkeit Gottes von Christus lernen. Es ist kein Mangel an Demut, wenn Paulus den Gläubigen immer wieder sagt, sie sollen ihn nachahmen, sich ihn zum Vorbild nehmen, wie er selbst sich Christus zum Vorbild genommen hat: "Ahmt mich nach, wie ich selber Christi Nachahmer geworden bin" (1 Kor 11,1). Wenn Christus unser Bruder geworden ist, dann sind die Beziehungen untereinander von ihm geprägt, von der herzlichen Liebe, die Paulus umfängt, seit er Christus begegnet ist.
P. Norbert Baumert weist darauf hin, wie sehr der Apostel Paulus im Umgang mit seinen Gemeinden von seiner eigenen Erfahrung der Barmherzigkeit Gottes geprägt ist; so schreibt er den Philippern: "Gott ist mein Zeuge, wie sehr ich mich nach euch allen sehne mit der herzlichen Liebe Christi Jesu (Phil 1,8), wörtlich "in den Eingeweiden Jesu Christi". Die (mütterliche) Liebe Christi ist in Paulus wirksam (vgl. Frau und Mann bei Paulus. Überwindung eines Missverständnisses, Echter-Verlag 1991, S. 13-28). So zögert er auch nicht, seine barmherzige Liebe den Gemeinden mit dem Bild der mütterlichen Liebe auszudrücken.
"Denn ich liebe euch mit der Eifersucht Gottes. Ich habe euch einem einzigen Mann verlobt, um euch als reine Jungfrau zu Christus zu führen." P. Baumert kommentiert: "Wenn ein Mann einer Gruppe von Männern und Frauen gegenüber eine solche Sprache wagt, zeugt das nicht nur von einer Zartheit und Tiefe der Empfindung, sondern auch von einer großen inneren Freiheit. Sie ist nur aus der Innigkeit tiefer geistlicher Erfahrung zu verstehen (sonst wäre sie unerträglich und platt), zeigt aber dann, dass der Schreiber menschliche Gefühle wie warme väterlich-mütterliche Zuneigung nicht verdrängt, sondern geistlich integriert hat" (vgl. 1 Thess 2,4-8, siehe Baumert, S. 15 f).
Im Galaterbrief geht Paulus so weit, von seinen "Geburtswehen" für die Gemeinde zu sprechen: er spricht von ihnen als seinen "Kindern, für die ich von neuem Geburtswehen erleide, bis Christus in euch Gestalt annimmt" (Gal 4,19). Dabei steht das hebräische Wort "Rachamim", der der Mutterschoß als Hinweis auf das Erbarmen Gottes im Hintergrund. Gott wird hier dichterisch verstanden als schwanger, in Geburtswehen liegend, als eine Mutter, die ein Kind gebiert und stillt. " 'Geburtswehen sind für einen Mann ein ungewöhnliches Bild; es zeigt etwas von der Lebendigkeit und inneren Freiheit des Paulus" (Baumert, S. 17-18).
Die Liebe des Paulus zu seiner Gemeinde, um die er so viel Sorge hat, Kummer, aber auch Freude, die Gemeinde von Korinth, geht so weit, dass er bräutliche Bilder gebraucht: "Ahmet mich nach, wie ich Christi Nachahmer geworden bin" (1 Kor 11,1). "Die Erlösung aller seiner Gefühle ist somit die vitale Konsequenz aus der Tatsache, dass Paulus sich bereits jetzt hinein genommen weiß in das Auferstehungsleben Christi (vgl. Röm 6,3-11).
Die erlöste Liebe zeigt sich auch darin, dass Paulus seine Beziehungen innerhalb des 'Leibes Christi nach Art aller familiären Beziehungen empfinden kann. Wie Jesus sagt: 'Wer den Willen meines Vaters tut, ist mir Bruder und Schwester und Mutter (Mk 3,35), weiß Paulus sich mit den Gemeinden als seinen 'Brüdern und Schwestern verbunden. Freilich - und hier beginnt eine erste Frage - spricht er, den damaligen Gepflogenheiten entsprechend, immer nur von 'Brüdern. Gelegentlich mag er dabei die nur aus Männern bestehende 'Gemeindeversammlung im Blick haben; im übrigen jedoch sind die Frauen selbstverständlich mitgemeint ('inklusive Rede), ausdrücklich wohl 1 Thess 5,23: 'euch alle miteinander. In Röm 16,1 nennt er Phoebe 'unsere Schwester'.
Auch die Vaterrolle nimmt [Paulus] nicht paternalistisch wahr, sondern sie drückt für ihn seine unverzichtbare, auf keinen anderen übertragbare Verantwortung vor Gott aus: 'Nicht um euch zu beschämen, schreibe ich das, sondern um euch als meine geliebten Kinder zu mahnen. Denn wenn ihr auch tausend Lehrer in Christus hättet, habt ihr doch nicht viele Väter; habe doch in Christus Jesus ich euch durch das Evangelium gezeugt (1 Kor 4,15). Den Thessalonichern gegenüber fühlt er sich 'für den unmittelbaren Augenblick von ihnen verwaist, aber mit großer Sehnsucht, sie zu sehen. 'Denn wer ist unsere Hoffnung oder Freude oder unser Ehrenkranz, wenn nicht ihr? (1 Thess 2,17-19). Hier bringt sich ein Mensch mit seiner ganzen Existenz in die Heilsgemeinschaft ein, mit geistlicher Autorität, aber 'ungeschützt, ohne autoritäre Machtstrukturen. Dies wird besonders dadurch deutlich, dass er es wagt, seine geistliche Beziehung zu den Menschen auch durch mütterliche Bilder auszudrücken: 'Wie zu Säuglingen in Christus habe ich zu euch gesprochen. Milch gab ich euch zu trinken, nicht feste Speise; denn ihr habt sie noch nicht vertragen (1 Kor 3,1 f)" (Baumert, S. 18-19).
Paulus liebt die Gemeinde mit der eifersüchtigen Liebe Gottes und umwirbt sie, um sie Christus ganz rein und ungeteilt zuzuführen.
Aber Paulus kann sich auch klar als Vater der Gemeinden sehen: den Korinthern schreibt er: "Nicht um euch zu beschämen, schreibe ich das, sondern um euch als meine geliebten Kinder zu mahnen. Denn wenn ihr auch tausend Lehrer in Christus hättet, habt ihr doch nicht so viele Väter; habe doch in Christus Jesus ich euch durch das Evangelium gezeugt" (1 Kor 4,15). Was für die Gemeinde als ganze gilt, dass Paulus für sie Vater ist, kann auch für die Einzelnen gelten. In dem berührenden Brieflein an Philemon sagt Paulus, er sei dem entlaufenen Sklaven des Philemon namens Onesimus Vater geworden, weil Onesimus durch ihn Christ geworden ist:
"Ich, Paulus, ein alter Mann, der jetzt für Christus Jesus im Kerker liegt, ich bitte dich für mein Kind Onesimus, dem ich im Gefängnis zum Vater geworden bin Ich schicke ihn dir zurück, ihn, das bedeutet mein eigenes Herz nicht mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder Das ist er auf jeden Fall für mich, um wie viel mehr dann für dich, als Mensch und auch vor dem Herrn" (Phlm 9.10.12.16).
Wir sahen früher schon, dass die Barmherzigkeit Gottes in der Sprache der Bibel zwei Dimensionen hat, die im Hebräischen mit den Worten rachamim und chesed benannt werden. Etwas vereinfachend können wir sagen, es seien dies die mütterliche und die väterliche Seite der Barmherzigkeit: das Bergende des Mutterschoßes sowie das Feste und Treue der Vaterliebe. Beide Dimensionen kommen im Leben des Apostels zum Ausdruck. Und er zögert nicht, uns aufzufordern, ihn darin zum Vorbild zu nehmen.
Ich wünsche mir für das "Paulus-Jahr", dass wir ihn viel besser, tiefer kennen lernen und so wirklich nachahmen können. Ich wünsche mir, dass wir die, leider fest verwurzelten, Vorurteile gegen den Völkerapostel endlich zu überwinden lernen, besonders das Vorurteil, er sei frauenfeindlich, aber auch das viel radikalere Vorurteil, Paulus habe Jesu Anliegen verfälscht, manipuliert, er sei eigentlich "der Gründer des Christentums", wie es von manchen, auch jüdischen Autoren vertreten wird, die sich mit Paulus besonders schwer tun. Aber gerade er ist der Apostel, der am tiefsten über das Verhältnis von Juden und Christen geschrieben hat (Röm 9-11).
Zum Schluss füge ich noch ein Wort über einen bishernoch zu wenig angesprochenen Aspekt der Barmherzigkeit Gottes bei Paulus an. Paulus hat Barmherzigkeit erfahren. Im Licht dieser Erfahrung sieht er sich als der erste unter den Sündern (1 Tim 1,15). Erst im Erahnen des Übermaßes an Barmherzigkeit wird ihm das ganze Drama der Sünde bewusst. "Die tiefste Not des Menschen ist seine Verfallenheit an die Sünde. Dies ist die Wurzel allen Übels. Darum sieht Paulus, wie Gott in seiner Barmherzigkeit dort mit der Rettung des Menschen beginnt. 'In seiner Barmherzigkeit hat Gott uns gerettet durch ein Bad, in dem wir wiedergeboren werden (Tit 3,5).
Dieses Rettungsangebot Gottes an alle Menschen nahm seinen Anfang mit der Erwählung Israels; Paulus bezeichnet das Volk Gottes, sein Volk, als 'Empfänger und Träger der Barmherzigkeit (Röm 9,23) für alle Menschen! Durch sie werden dann alle Völker gesegnet, so dass 'die Völker Gott preisen und verherrlichen für seine Barmherzigkeit (Röm 15,9)! Paulus muss das tief erfasst haben, so dass er (Eph 2,4) ausruft: 'Gott, reich an Barmherzigkeit, hat uns mit Christus lebendig gemacht! Darin zeigt sich grundlegend die Barmherzigkeit Gottes, dass er uns neues Leben schenkt." (Baumert, private Notizen).