"Du lenkst alles..." Gottes Führung und das Leid der Welt
I.
Den Winter 1957/1958 verbrachte der Dichter und Schriftsteller Reinhold Schneider in Wien. Es war sein letzter Winter. Der erst 55-jährige führte Tagebuch über die vier, fünf Monate, die er in Wien verbrachte. Schon schwer leidend, von tiefer Schwermut heimgesucht, ehe er an Ostern 1958 verstarb, hat Reinhold Schneider immer wieder über die Schrecklichkeiten, die unfassbaren Grausamkeiten der Natur gesprochen, von dem "Prozess des Fressens und Gefressenwerdens" (Winter in Wien, Freiburg 1958, 184), aber auch von der sinnlos schrecklichen Menschenwelt, voll Leid und Krieg und bodenloser Bosheit.
Hatte der Kranke, depressive Dichter seinen Glauben verloren, der in der Nazizeit so vielen Menschen Halt gegeben hatte? War er zu einer tragischen Weltsicht zurückgekehrt, die ihn vor seiner Bekehrung zum katholischen Glauben geprägt hatte? Seine Betrachtungen, seine an Verzweiflung grenzende Ratlosigkeit vor den Grauen dieser Welt stellen den Glauben an einen guten Schöpfer, an seinen sinnvollen Plan, seine gütige Vorsehung in Frage. Drei Notizen seien aus diesen Tagebüchern zitiert:
1. Anlässlich eines Besuchs im Naturhistorischen Museum vermerkt Reinhold Schneider: "Man gehe nur einmal durch das Naturhistorische Museum - und Gott ist ebenso nahe wie fern. Es ist unmöglich, ihn vor dieser unübersehbaren Gestaltenwelt, dieser entsetzlichen Fülle der Erfindungen zu leugnen; ihn zu leugnen vor der absurden Architektur des Dinosauriers - einer Kathedrale der Sinnlosigkeit, des Lebenswillens, der nicht leben kann; vor den bösen Gespenstern japanischer Krabben, eines hochbeinigen Liebespärchens aus dem Inferno; vor dem Octopus, dem achtfachen Kopffüßler, den man, wenn ich mich recht erinnere, im Hamburger Aquarium zur Erbauung der Besucher mit einer Riesenlanguste konfrontierte. Der Verlauf der Begegnung war überraschend: Der Octopus umschlang die Scheren des Gegners, zerbrach sie und saugte das Leben aus der Schale. Und der Seestern bricht die Muscheln auf, stößt den Magenschlauch hinein und trinkt sie leer wie ein Ei. Von den Haien, die sich über die Walrosse werfen - von der Seite her; von der Wehrlosigkeit der Seehunde und Delphine ist nichts zu sagen, und nichts vom Kampf der Riesenquallen mit den Walen; vom Frosch, der aufrecht stehend wie ein Mensch, von dem ihn umschnürenden Egel ausgesaugt wird..." (Winter in Wien 129-130).
2. Warum gibt es in einer guten Schöpfung Parasiten und ihr unvorstellbar grausames Wirken? Oder ist es nur unsere Vorstellung, die uns erschaudern lässt? Ist "die Natur" vielleicht eben so, ohne Erbarmen, ohne Mitgefühl, "rotierende Höllen", wie Schneider (ebd., S. 171) sagt? Hören wir ihn nochmals: "Man muss beten, auch wenn man es nicht kann. Ich kann sehr wohl beten für andere, die Priester, Forscher, Staatsmänner, die Völker, die Kreatur, die Erde; für die Kranken zuerst, wie es sich versteht, und für die Toten; das ist die stille Bestätigung eines rätselvollen Zusammenhangs. Ich habe ein tiefes Bedürfnis danach; es ist das, was mich hält, was mich morgens in die Kirche ruft; für mich kann ich nicht beten. Und des Vaters Antlitz hat sich ganz verdunkelt. Es ist die schreckliche Maske der Zerschmeißenden, des Keltertreters; Ich kann eigentlich nicht 'Vater' sagen ... Lesen wir nur ein Kapitel über Parasiten (bei Natzmer, K.v. Frisch, der doch wahrlich mit Augen der Liebe noch Läuse, Wanzen und Flöhe betrachtet, ein fast einzigartiger Fall, oder bei L.v. Bertalanffy). Erinnern wir uns nur der alltäglichen, schon oft erzählten Geschichte von den im Gedärme gewisser Vögel lebenden Schmarotzern, deren Eier durch den Kot sich in Schnecken einschleichen; in diesen wachsen sich die Keime zu Schläuchen aus, die in die Fühler vordringen; in den aufdunsenden Fühlern entwickeln sie ein anreizendes Farbenspiel und ebensolche Bewegungen; das lockt die Vögel an, die Fühler abzureißen; so kommen die Parasiten wieder an ihren Platz. Und immer wachsen der Schnecke wieder Fühler, und immer werden sie abgerissen; die Schnecke ist nur Herstellerin der Zerstörer, die sie und die Vögel zerstören; ohne Myriaden von Zerstörern zu beherbergen, ohne von ihnen sich bedienen zu lassen, könnte kein höherer Organismus bestehen; ohne sie also könnte auch der Geist sich nicht aussagen. Und was sind nun Liebe und Schönheit? Es bedarf äußerster Kraft, sie niemals zu verletzen (119-120).
Die Beispiele lassen sich leider beliebig vermehren. Wer hat nicht schon von der "Gottesanbeterin" gehört, die bei der Begattung das Männchen lebendig auffrisst? Wo ist da ein "Intelligent Design"? Wo ein guter und liebender Schöpfer, der von seiner Schöpfung sagen kann, dass sie gut ist?
3. Was sollen wir schließlich von der nie endenden Kette an menschlichem Leid denken? Reinhold Schneider notiert in seinem Winter-Tagebuch, was er an einem Tag, "die Zeitungen durchblätternd", an sinnlos-zufälligem Leid von unschuldigen Kindern zusammen gelesen hat. "Am klarsten sagt sich die Zeit in ihren Absurditäten aus; ich kann es nicht lassen, sie zusammenzutragen: in Holland wurde ein vierjähriges Mädchen mit einem radioaktiven Stoff behandelt; die Spitze der Nadel brach ab und blieb unbemerkt stecken; von dem erkrankten Kind geht eine Verseuchung aus, die die wackre Familie Haanschoten aus ihrem Häuschen in Putten vertreibt; auch der Garten ist verpestet und der daran vorbeiführende Weg zur Kinderschule. In Wien stirbt eine Achtjährige, der ein Zahn gezogen wurde, an der Schockwirkung im Behandlungszimmer; in Oakland in Kalifornien hat das Gericht den Eltern zweier Kinder recht gegeben, die nach der Impfung mit Salkserum nicht heilbare Lähmungen und Rückgratsverkrümmung erlitten; in der Nähe von Bari sind vier Kinder gestorben, die auf die Anordnung des Gesundheitsamtes mit einem bisher noch nicht verwendeten Serum gegen Diphtherie geimpft wurden; fünfzehn Kinder liegen im Spital. In der Münchener Universitätsklinik hatte eine Schwester das Unglück, einem jungen Mädchen statt eines narkotisierenden Mittels Benzin einzuspritzen; die Patientin stirbt. Das kann man, die Zeitungen durchblätternd, am selben Tage lesen" (126-127).
Ich könnte noch lange fortfahren, Ihnen ähnliche Dinge vorzulesen. In den vielen Briefen, die ich in den letzten Monaten erhalten habe, kam oft diese Frage zur Sprache: Wo finden Sie einen vernünftigen Schöpfungsplan in einer Welt voller absurder Zufälligkeiten? Zwei Briefe darf ich exemplarisch zitieren. Ein Professor für Genetik und Entwicklungsbiologie schrieb mir vor kurzem: "Wer einmal ein Heim für unheilbare Kinder besucht und dort z.B. einen dahinvegetierenden Hydrocephalus mit ballonartigem Schädel oder augenlose Kinder - solche mit leeren Augenhöhlen - gesehen hat, wird Schwierigkeiten mit der Hypothese des 'Intelligent Design = ID' haben."
Ein Professor für Medizinische Computerwissenschaft schrieb mir im vergangenen Herbst:
"Früher hatte die Thematik der Evolution für mich keine besondere Brisanz... Seit drei Jahren jedoch habe ich mich... auch mit Bioinformatik eingehend beschäftigt. Dabei dringt man zwangsläufig relativ weit in die Genomforschung ein. Man kann ja heutzutage schon das ganze Genom auf jedem PC ansehen. Hatte ich vorher gedacht, 'Die Schöpfung ist wohlgeordnet und alle Unordnung sei nur Abweichung von dieser Wohlordnung...' (verschuldet oder unverschuldet), musste ich sehr bald von absolut planlosen Schritten einen völlig entgegengesetzten Eindruck gewinnen: Die Schöpfung erscheint eher als eine Ansammlung von planlosen Schritten, und wir sehen lediglich jene 'Produkte', die überlebt haben (und eine gewissen Funktionalität aufweisen). Diese wird (von manchen Interpreten) daher als 'planvoll gestaltet' bezeichnet. Es ist so ähnlich, als wenn jemand nach einem Gewinn im Glücksspiel eben dieses Gewinnen als Ergebnis eines planvollen Vorgehens bezeichnen würde... Würde uns das überzeugen? Man kann natürlich immer einwerfen, 'es erscheint zwar planlos, aber nur deshalb, weil wir den Plan dahinter eben nicht verstehen...' Auch dieses Argument hätte ich gerne für wahr gehalten.
Aber werfen Sie, Herr Kardinal, doch einmal selbst... einen Blick in das Genom! Sehen Sie, wie es dort 'drunter und drüber' geht. Es ähnelt einer vielfach ausgebesserten Stadt, wo auf den Trümmern einiger Teile Neues hinzugefügt wird. Kopien und verfälschte Kopien werden an passenden und unpassenden Plätzen eingefügt, teilweise in richtiger Orientierung, teilweise in umgekehrter: kein Techniker würde je so ein Durcheinander planen. Ja, es wirkt geradezu als 'das Gegenteil von Planung'.
Für mich als Christ war diese Erkenntnis zutiefst bestürzend, ich hatte genau das Umgekehrte bisher für wahr gehalten... Letztlich läuft es meines Erachtens darauf hinaus...: Gott hat sich der Evolution bedient um all das zu schaffen. Aber damit liegt das eigentliche Problem bereits auf dem Tisch: Wie kann Gott, der Barmherzige, all die fürchterlichen Versuche und Irrwege, Tausende Tode, zulassen, und das soll womöglich das Mittel seines planenden Schaffens sein? Dies widerspricht dem landläufigen Bild, das wir von Gott (durch die Kirche vermittelt) bekommen haben...
Es ist allerhöchste Zeit, sich die Welt, die Gott gemacht hat, genau anzusehen. Um herauszufinden, wie er es wirklich gemeint hat. Ich denke, niemand weiß es bis jetzt."
Genug der Fragen. Gibt es auch Antworten? Sagen wir es gleich: die Antwort auf die Fragen nach dem Übel, dem Leid, nach deren Ursprung und deren Verhältnis zu Gottes Gutheit und der seiner Schöpfung, nach Gottes Plan und Vorsehung, kann keine vorschnelle sein. Der Katechismus der Katholischen Kirche sagt dazu:
"Wenn doch Gott, der allmächtige Vater, der Schöpfer einer geordneten und guten Welt, sich aller seiner Geschöpfe annimmt, warum gibt es dann das Böse? Jede vorschnelle Antwort auf diese ebenso bedrängende wie unvermeidliche, ebenso schmerzliche wie geheimnisvolle Frage wird unbefriedigt lassen. Der christliche Glaube als ganzer ist die Antwort auf diese Frage: Das Gutsein der Schöpfung, das Drama der Sünde, die geduldige Liebe Gottes, der dem Menschen entgegenkommt. Er tut dies durch seine Bundesschlüsse, durch die erlösende Menschwerdung seines Sohnes und die Gabe des Geistes; er tut es durch das Versammeln der Kirche und die Kraft der Sakramente; er tut es schließlich durch die Berufung zu einem glückseligen Leben. Die freien Geschöpfe sind im Voraus dazu eingeladen, diese Berufung anzunehmen. Sie können diese aber auch - ein erschreckendes Mysterium - im Voraus ausschlagen. Es gibt kein Element der christlichen Botschaft, das nicht auch Antwort auf das Problem des Bösen wäre" (KKK, 309).
Der heilige Augustinus hat mit dieser Frage intensiv gerungen: "Ich fragte nach dem Ursprung des Bösen, doch es fand sich kein Ausweg" (Confessiones 7,7,11). Nach langem Suchen und manchen Um- und Irrwegen fand er erst eine Antwort, als er den fand, der alleine das Böse, die Sünde und den Tod besiegt hat (vgl. 385).
Die Jahrhunderte christlicher Erfahrung zeigen eines sehr klar: Je tiefer wir in das unendliche Geheimnis Gottes hinein genommen werden, je lebendiger die Gemeinschaft mit Christus, dem Erlöser wird, je inniger die Vertrautheit mit dem Heiligen Geist ist, desto deutlicher tritt die Frage nach dem Bösen, dem Übel in der Welt hervor. Je mehr das Gespür für Gott verblasst, desto dunkler wird auch das Verständnis für das Übel. Es wird zum sinnlosen Ärgernis, vor dem man nur entweder in die Verzweiflung oder in die Leugnung flüchten kann. Ein Iwan Karamasow in Dostojewskis Roman flüchtet in die Revolte. Angesichts des Leidens der Kinder folgert Iwan, dass die Welt und die Geschichte absurd sind. Er will seine "Eintrittskarte" zurückgeben. Einen Gott, der so sinnlos leiden lässt, kann es für ihn nicht geben. Dostojewski selbst ringt mit der Frage, ob es auf die atheistischen Argumente auf Grund des schrecklichen Leidens von Unschuldigen überhaupt eine Antwort geben kann, mit dem Hinweis, dass es nur mit einem Wechsel des Blickwinkels, der Perspektive gelingen kann, eine Antwort zu zeigen. Mit dem Argument allein wird es nicht möglich sein. Die Antwort auf Iwans Protestatheismus zeichnet Dostojewski in der Gestalt des Starez Sosima. Nicht Argumente können letztlich überzeugen, dass die Übel dieser Welt nicht einfach sinnlose Absurdität sind. Immer waren es Menschen, die die glaubwürdige Antwort gelebt haben. Eine Mutter Teresa war eine solche "lebendige Antwort" auf die Herausforderung des Leides und des Übels in der Welt.
Dennoch müssen wir auch argumentieren. Die Vernunft will verstehen, vernehmen, was es mit dem Übel in der Welt auf sich hat. Die Antwort der großen christlichen Denktradition ist so tief und durchdacht, dass es höchst dringlich wäre, sie besser zu kennen. Im "KKK" (Katechismus der Katholischen Kirche) ist in den Nummern 309-311 das Wichtigste zusammengefasst. Ich will versuchen, es ein wenig vorzustellen.
Beginnen wir mit einem der häufigsten Einwände gegen den Schöpfer und seinen Plan, seine Lenkung und Vorsehung: "Warum hat Gott nicht eine so vollkommene Welt erschaffen, dass es darin nichts Böses geben könnte?" (KKK 310)
Ich stelle immer wieder fest, dass ein tief sitzendes Missverständnis weit verbreitet ist: Wenn Gott diese Welt geschaffen hat, kann er sie nur völlig perfekt geschaffen haben. Jeder Mangel, der festgestellt wird, scheint gegen einen "intelligenten Schöpfer" und seinen intelligenten Plan zu sprechen. Das "Durcheinander" im genetischen Code ist so ein Beispiel. Gerne wird dann gesagt: Kein vernünftiger Ingenieur würde eine Maschine so konstruieren. Ein geradezu klassisches Beispiel für diese Argumentation ist das menschliche Auge. Als "naiver Schöpfungsgläubiger" würde ich sagen: ein unfassbares Wunderwerk, das Staunen vor dem Schöpfer erweckt - Mitnichten, sagen Evolutionsexperten: Kein Optiker würde das Objektiv, die Linse, die Spiegelung so konstruieren wie das menschliche Auge jetzt ist. Ehe ich auf das dahinter liegende Missverständnis eingehe nur ein "schnelles Gegenargument": Mag sein, dass das menschliche Auge besser konstruiert sein könnte. Wir verdanken es aber dieser "Konstruktion", dass wir Optiker, Ingenieure und anderes mehr werden können, ja dass wir alle das Wunder des Sehens erleben können, es sei denn, ein Defekt (Blindheit) hindere uns daran. Ferner: Trotz allen großartigen technischen Könnens ist niemand imstande, ein funktionierendes, lebendes menschliches Auge zu konstruieren.
Aber kommen wir nun zum Kern der Frage: Muss Gott, wenn er Schöpfer ist, eine vollkommene, fehlerlose Welt schaffen? Ist die Alternative nur: entweder eine perfekte Schöpfung - oder eine Welt, die reines Zufallsprodukt ist? Konnte, musste Gott, wenn er der Schöpfer ist, eine in allem bereits fertige Welt schaffen, in der alles seine vollkommene Gestalt, sein unveränderliches Verwirklichtsein von Anfang an besitzt?
Sollte es so sein, dass Schöpfung einen Anfang bedeutet, dem ein Werden folgt, das schließlich in ein Ziel mündet, dann hieße es doch, dass der Schöpfer mit dem, was er "im Anfang schuf", einen Weg in Gang gesetzt hat, auf dem die Welt sich noch befindet und dessen Ziel noch nicht erreicht ist. In einer solchen Welt gäbe es ein ständiges Werden. Das aber bedeutet immer auch: ein ständiges Vergehen. Denn nichts Materielles, das entsteht, das wird und sich entwickelt, bleibt stehen. Es wird auch immer wieder vergehen. Damit ist aber auch unweigerlich verbunden, dass es in einer "Werde-Welt" auch Untergang, Zerstörung und Tod gibt. Der KKK formuliert das so: "In seiner unendlichen Macht könnte Gott stets etwas Besseres schaffen. In seiner unendlichen Weisheit und Güte jedoch wollte Gott aus freiem Entschluss eine Welt erschaffen, die 'auf dem Weg' hin zu ihrer letzten Vollkommenheit ist. Dieses Werden bringt nach Gottes Plan mit dem Erscheinen gewisser Daseinsformen das Verschwinden anderer, mit dem Vollkommenen auch weniger Vollkommenes mit sich, mit dem Aufbau auch den Abbau in der Natur. Solange die Schöpfung noch nicht zur Vollendung gelangt ist, gibt es mit dem physisch Guten folglich auch das physische Übel" (KKK, 310).
Bleiben wir vorerst beim "physischen Übel". In der Diskussion über Schöpfung und Evolution spielt es ja die größere Rolle als die Frage nach dem moralischen Übel, das es nur im Bereich der geschaffenen Freiheit, also beim Menschen und bei den Engeln gibt. Ich werde in der nächsten Katechese darauf eingehen.
Ist das "Gott sah, dass es gut war" der Genesis vereinbar mit dem "Fressen und Gefressen werden" in der ganzen Welt des Lebendigen?
Versuchen wir, uns in dieser Frage drei Schritten zu nähern.
Ohne eine Art "metaphysischer Grundeinsicht" werden wir uns der Frage nicht nähern können. Dieser metaphysische Grundsatz lautet: "Alles, was ist, ist gut, weil es ist". Es ist gut, zu sein. Alles, was ist, hat vor allen anderen Bestimmungen und Eigenschaften zuerst einmal dies, zu sein. Die Naturwissenschaften haben es immer schon mit Eigenschaften zu tun: Größe, Quantität, Qualität, Herkunft, Ort, Zeit. Wir fragen aber jetzt nach dem, was alle Eigenschaften und Bestimmungen trägt: dass alles, was ist, Sein hat. Das ist gut so! Aber hier folgt eine wichtige Präzisierung: Gott hat allem sein Sein gegeben. Das glauben wir. Das heißt aber nicht, dass alles, was ist, deshalb schon "das Best-Mögliche" ist. Gott könnte auch eine bessere Welt schaffen (vgl. Thomas v.A. STh I, 25, ad 1). Er könnte es, wenn er es wollte. Müsste er es dann nicht auch, wenn er es könnte? Daran nehmen wir leicht Anstoß: Warum hat er, wenn er es kann, nicht eine bessere, gerechtere, liebevolle Welt geschaffen? Ist er vielleicht einfach zu schwach, um eine bessere, planvollere Welt zu schaffen? Ist sie ihm "entglitten"? Hat er nicht genügend Zugriff und Kraft? Oder ist es eben doch so, dass alles seine zufälligen Läufe geht, ohne Sinn und Ziel? Ohne Schöpfer?
Ein Vergleich kann uns helfen: Als Michelangelo seinen Moses fertig gearbeitet hatte, soll er seinen Hammer auf ihn geworfen haben mit den Worten: "So rede doch!" Kein Kunstwerk, und sei es noch so vollkommen, kann all das ausdrücken und ausschöpfen, was der Künstler im Herzen und im Sinn hat. Es wird immer ein begrenzter Ausdruck sein, begrenzt durch den materiellen Rahmen, der allen Ideen immer auch eine gewisse Grenze setzt, begrenzt auch dadurch, dass ein Werk immer nur ein Abglanz dessen ist, was der Künstler in seiner schöpferischen Intuition sieht.
Der Vergleich soll verständlich machen, dass alle Geschöpfe zwar gut, aber begrenzt sind. Keines kann den Schöpfer ganz zum Ausdruck bringen. Auch wenn die Welt noch viel besser, perfekter wäre, würde sie doch nie an Gottes Herrlichkeit herankommen. Sie bleibt immer ein Abglanz von der Größe des Schöpfers. Sie kann sie nie vollkommen widerspiegeln, nicht nur, weil alle Geschöpfe begrenzt sind, sondern auch, weil sie im Werden sind, einen Anfang, eine Entfaltung, ein Ende haben.
Die nicht endende Debatte um das "Intelligent Design" dreht sich vielleicht deshalb im Kreis, weil heute, wenn von design und designer die Rede ist, spontan an den "göttlichen Ingenieur" gedacht wird, an eine Art allwissenden Techniker, der, weil er vollkommen sein muss, auch nur vollkommen perfekte Maschinen produzieren müsste. Ich glaube, hier liegt die tiefste Ursache so vieler Missverständnisse, auch seitens der "Intelligent-Design" - Schule in den USA. Gott ist kein Uhrmacher, kein Konstrukteur von Maschinen, sondern der Schöpfer von Naturen. Die Welt ist kein Uhrwerk, keine Riesenmaschine, auch kein Megacomputer, sie ist, wie Jacques Maritain sagt, "une république de natures" ("Reflexions sur la nécessité et la contingence", in: ders., Raison et raisons, Paris 1947, S. 62).
Um sinnvoll vom "Design" des Schöpfers zu reden, müssen wir den Natur-Begriff wiedergewinnen, der weitgehend verloren gegangen ist und durch ein technisch-mechanistisches Verständnis des Lebendigen ersetzt wurde.
Gott schafft "Naturen", eine "Republik von Naturen"; das heißt: in seiner Schöpfung gibt es vor allem das juein (phyein), das Wachsen und Werden, mit all seinem Tasten, Versuchen, Misserfolgen und Durchbrüchen, seinen Synergien und Kämpfen, seiner unfassbaren Verschwendung und seinen unerwarteten Nebenfolgen - glücklichen und missglückenden.
Vor allem aber gibt es das, was den "Naturen" unverwechselbar eigen ist: ihr eigenes Wirken, das ihnen vom Schöpfer "eingegeben" ist und das sie aus sich heraus wachsen und wirken lässt, sodass sie ihren Zweck erreichen, nicht "von außen" aufgezwungen, sondern aus dem Eigenen ihrer Natur heraus. Jegliches in der Natur scheint genau zu wissen, was es zu tun hat. Der hl. Thomas von Aquin sagt, "Natur" sei ein "inneres Prinzip", aus dem heraus alles das tut und wirkt, was seiner Natur entspricht. Er führt dieses innere Prinzip auf die "ars divina" zurück, die Kunst des Schöpfers, der den Geschöpfen ihre Selbstentfaltung und Selbstgestaltung "eingibt" (vgl. Thomas v. A., In Physicorum, lib. 2, lec. 14, n.8).
Doch kehren wir zur Frage der Verschwendung in der Natur zurück. "Eine Fichte produziert in ihrem oft über hundert Jahre dauernden Leben Tonnen von Samen, von denen letztlich einer Erfolg haben wird, wenn ein Windbruch den alten Baum beseitigt und neuen Lebensraum freigegeben hat. Bis dahin hat der Baum Futter für Vögel oder Wildschweine und Insekten zur Verfügung gestellt", so schreibt mir der schon anfangs zitierte Genetiker, und er meint, dass dieses "Prinzip der Überproduktion" und die mit ihm verbundene Vernichtung "kein Ruhmesblatt im Wirken eines Gottes sein kann". Wieso nicht? Für einen Ingenieur widerspricht dies dem Prinzip der technischen Zweckrationalität. Aber widerspricht es der Vitalität und der Kreativität des Lebens? Diese maßlose Verschwendung hat sicher mit der Überlebenssicherung zu tun, sie ist aber auch ein Zeichen des Lebendigen, das in aller Unvollkommenheit und Vergänglichkeit doch Abglanz der unerschöpflichen Lebendigkeit des Schöpfers ist.
Die entscheidende Frage steht freilich noch aus: "unde malum?" (Augustinus). Woher kommt das Übel? Dass die Schöpfung gut, aber unvollkommen ist, können wir hoffentlich einsehen. Warum aber so viel scheinbar sinnlose Zerstörung und Grausamkeit?
Die letzte Zeit hat wieder bewusst gemacht, wie gewalttätig, zerstörerisch "die Natur" sein kann: Erdbeben wie das vom 26.12.2004 vor der Küste Indonesiens können in kürzester Zeit gewaltige Zerstörungen bewirken. Mit der Stärke 9 auf der Richterskala hatte es die Gewalt von 23.000 Atombomben - so las ich in einem wissenschaftlichen Bericht.
So mächtig die Gewalt dieser Bewegung der Kontinentalplatten war, so hat doch der Planet Erde, unsere Heimstätte im Universum, kaum Notiz genommen. Die Erdumdrehung habe sich nur zwei Millionstel einer Sekunde verlangsamt. So schrecklich die Folgen des durch das Untersee-Erdbeben ausgelösten Tsunami waren, so ist die Erdbebenaktivität nur die Kehrseite einer für das Leben auf unserem Planeten unerlässlichen Voraussetzung. Ohne die "Plattentektonik", d.h. die Mobilität der Platten, die die Erdkruste bilden, gäbe es kein Leben auf der Erde. Die Experten sagen, sie sei eine der Voraussetzungen dafür, dass die Erde über Milliarden von Jahren eine stabile Durchschnittstemperatur erhalten konnte, ohne die es keine Evolution des Lebens hätte geben können (Peter Ward und Donald Brownlee: "Unsere einsame Erde", Berlin 2001, 223-254; engl. "Rare Earth", N.Y. 2000). Die Erde ist der einzige Planet im Sonnensystem, der diese flexible geologische Struktur hat. Sie ist auch der einzige Ort, an dem sich höheres Lebens entwickeln konnte.
So stehen wir vor dem Paradox: Das, was die Erdbeben verursacht und immer wieder zu vielen Todesopfern führt, ist zugleich eine der Voraussetzungen dafür, dass es uns und alle komplexeren Lebewesen auf dieser Erde geben kann.
Was hat uns das zu sagen? Marco Bersanelli, ein italienischer Naturwissenschaftler, schreibt dazu folgende Überlegung:
"Eine kleine Welle im Ozean, oder ein kaum wahrnehmbarer Hauch auf der Haut unseres Planeten genügt, um unsere Existenz zu verwüsten. Solche Phänomene zeigen die Gebrechlichkeit und Zartheit der Welt, die wir täglich für selbstverständlich halten. Die Normalität des Universums ist ganz und gar nicht die ruhige See, die von Leben wimmelt; es ist vielmehr die grenzenlose Wüste von schweigenden Weiten, oder die Entfesselung unwiderstehlicher Kräfte. Die Explosion einer nahen Supernova könnte unsere totale, augenblickliche Vernichtung verursachen, doch dieselbe Explosion in ferner Vergangenheit hat die für uns und für jeden Organismus wesentlichen Elemente geliefert, wie Kohlenstoff und Sauerstoff. Das Leben auf Erden existiert in einer hervorragend beschützten Nische, wunderbar ausgesondert, in der die Produkte der ganzen kosmischen Geschichte genutzt werden".
Nach dem Tsunami wurde immer wieder gesagt: Wie kann ein guter Schöpfer solches zulassen? Ich habe leider nie gehört: Wie können wir dem Schöpfer danken, dass er uns die Traumstrände von Phuket geschenkt hat? Sie sind durch dieselbe Erdgeschichte entstanden wie auch der Tsunami. Wir sind auf einem wunderbaren Planeten, aber alles auf ihm ist auch gefährdet, und unser Leben auf ihm ist uns "auf Abruf" anvertraut.
Was im Großen gilt, trifft auch im Kleinsten zu. Der Professor für Medizinische Computerwissenschaft, den ich anfangs zitiert habe, gab mir inzwischen Einblick in seine faszinierende Arbeit. Die unvorstellbar komplexen Vorgänge im Genom, die das Leben, alle Formen des Lebens, bestimmen, lassen den nachdenklichen Forscher perplex werden. Warum diese Fehleranfälligkeit? Warum Missbildungen als Folge von schädlichen Mutationen? Der genannte Professor Wolfgang Schreiner meint, man könne von einem "succesful design" sprechen, denn für die Überlebenden sei es erfolgreich. Aber es sei nicht sorgfältig ("careful design"), wenn man die vielen möglichen Fehlerquellen sieht, und auch nicht mitfühlend ("compassionate design"). Abschließend meint er: "Von 'intelligent design' würde man eigentlich alles erwarten", dass es succesful, careful und compassionate sein müsse.
Ich will versuchen, auf diese Fragen hin zwei Antwortrichtungen aufzuweisen:
1. Das Übel ist groß, schrecklich und nicht wegzuerklären. Aber das Gute ist dennoch immer größer und mächtiger. Das ist eine Überzeugung von absoluter Gewissheit. Das Übel in allen seinen Formen ist immer ein Mangel an Gutem, ein Defekt, der groß und schrecklich sein kann, aber letztlich nie größer als das Gute, das er verkehrt oder beraubt. Das zeigt sich schon im Kleinsten: Genetische Defekte können schreckliche Missbildungen bewirken. Sie sind dennoch immer Ausnahmen. Das Erstaunliche ist, dass dieser so ungeheuer komplexe Apparat des Genoms überhaupt funktioniert, und meist sogar hervorragend und ganz zielgenau.
2. Dennoch: Ein behindertes Kind, auch wenn nur eines unter 1.000 gesunden, ist eben doch ein einmaliges Wesen mit seinem Schicksal und dem seiner Eltern und Geschwister. Warum "lässt Gott dies zu?" Hüten wir uns vor "glatten" Antworten. Auf die Frage warum? gibt es nur die Antwort der Solidarität. Auch ich hätte dieses behinderte Kind sein können. Es hat dasselbe Menschsein und dieselbe Würde wie ich. Es ist ein lebender Anruf an mich: Sei zu mir so, wie du es dir wünschen würdest, wenn du in meiner Lage wärest. Wie viel an Liebe ist auf diesem schmerzlichen Weg in die Welt gekommen!
Es bleibt schließlich die Frage von Reinhold Schneider, die lastende Frage, warum das Übel so sinnlos zuschlägt. Ein "design" ist hier nicht zu erkennen. Eher die Zerstörung von Sinn und Plan. Die Bibel weiß davon, dass "die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt" (Röm 8,22). Sie ist vom Bösen verwundet, gezeichnet. Sie ist nicht nur "der Vergänglichkeit unterworfen" (Röm 8,20). Es ist, als hätte "die böse Macht" in ihr die Oberhand gewonnen. Aber es ist ihr auch eine Verheißung gegeben: "Die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes" (Röm 8,21). Dieses "sehnsüchtige Warten der ganzen Schöpfung" richtet sich auf "das Offenbarwerden der Söhne Gottes" (Röm 8,19). Vom Menschen als der "Krone der Schöpfung" - und von der radikalen Kritik an diesem Glauben wird in der nächsten Katechese die Rede sein. In der übernächsten Katechese aber von Christus, dem Erlöser, in dem die Leiden der Schöpfung ein Ende finden, in dem die Neue Schöpfung ihren Anfang und ihr Ziel hat.