Eminenz, hochwürdigster Herr Kardinal!
Liebe Frau Dr. Fenzl!
Verehrte Mitchristen und Interessierte an der Botschaft von St. Stephan!
Ehrlich gesagt habe ich mir mit der Vorbereitung zum Thema des heutigen Abends sehr schwer getan. Jeder von uns kennt das Kreuz, weiß um seine Bedeutung, dass es das Zeichen des Christentums schlechthin ist und bleibt. Es ist der Inbegriff göttlicher Liebe und Barmherzigkeit, aber auch menschlicher Ohnmacht und Niederlage. Die Frage, die sich mir stellte war nur die: Haben wir uns nicht schon allzu sehr an dieses Zeichen gewöhnt?
Wir begegnen ihm ja in unseren Wohnungen und Büros, auf den Kirchtürmen unserer Kirchen, auf den Bergen meiner Heimat Tirol, in unseren Kirchen, auch hier im Dom dutzende Male, als schmückendes Ornament auf den Messkleidern und als Schmuckstück um den Hals getragen.
Ich möchte deshalb die heutige Katechese zum Thema "Kreuz und Auferstehung" mit einer ganz kurzen Geschichte beginnen. Sie stammt von einer Amerikanerin, Margaret Visser, die ein sehr interessantes Buch über die geistliche Bedeutung von Architektur in der Kirche geschrieben hat. Ich zitiere daraus in Übersetzung:
"Ich erinnere mich, wie ich vor einigen Jahren hinter einer kleinen, einsamen Kirche saß, irgendwo auf dem Gipfel eines Hügels in Spanien. Ein japanischer Tourist wurde von einem Führer, den er wohl in der etwas entfernten Stadt angeheuert hatte, zum Hauptportal gefahren und rund um das Gebäude geführt. Der Führer sprach in Englisch über die Datierung der verschiedenen Teile des Baus, dann ließ er sich lang und breit über das großartige steinerne Gewölbe aus. Der Tourist hob nicht einmal den Kopf, um es anzuschauen. Er starrte entsetzt auf eine erschreckende geschnitzte und bemalte lebensgroße Skulptur eines blutenden Mannes, der an zwei Hölzer genagelt war. Als der Führer endlich aufhörte zu reden, deutete der Mann wortlos auf die Statue. Der Führer nickte, lächelte und sagte ihm, in welchem Jahrhundert sie geschnitzt worden war."