Donnerstag 7. November 2024
Predigten von Kardinal Christoph Schönborn

Predigt zum Gedenken an Papst em. Benedikt XVI am 9.1.2023

Predigt von Kardinal Christoph Schönborn zum Gedenkgottesdienst für Papst em. Benedikt XVI am 9.1.2023 in St. Stephan.

Schwestern und Brüder!

 

Papst Benedikt wäre sicher nicht einverstanden, dass ich nicht die Predigt halte über die Schrifttexte, die wir am heutigen Tag von der Kirche vorgelegt bekommen haben. Er war ein wunderbarer Prediger und seine Art, die Schrift auszulegen, ist für alle, die es erlebt haben, unvergesslich. Dennoch will ich einen schlichten Versuch einer Würdigung des Verstorbenen wagen. Das gehört sicher nicht ganz in die Homilie, aber ein wenig aus persönlicher Sicht aus 49 Jahren der Bekanntschaft und ich darf sagen auch der Freundschaft ist es mir doch ein Anliegen, eine Würdigung zu versuchen.

 

Ich beginne mit einer persönlichen Erinnerung und schließe auch mit einer solchen. 1982 wurde Kardinal Ratzinger von Papst Johannes Paul II. nach Rom berufen in die Glaubenskongregation als deren Präfekt. Als ich einmal in den 80er Jahren die Pförtnerin - alle kannten sie - die Clelia fragte: 'Wie ist er denn, euer neuer Präfekt?', da gab sie mir diese wunderbare Antwort: "È un vero cristiano" - Er ist ein wahrer Christ. Was kann man Schöneres sagen? Volkesstimme. Er war geschätzt und geliebt von den sogenannten einfachen Menschen. Es war seine Aufmerksamkeit, seine Einfachheit, seine Freundlichkeit, die so viele Herzen gewonnen hat, so dass er in Rom, beim Volk der Stadt, deren Bischof er war, wirklich geliebt wurde.

 

Ich habe viele Jahre der Erfahrung mit der römischen Kurie - und ich muss sagen, ich glaube, in keinem anderen Dikasterium herrschte ein so gutes Klima wie in der Glaubenskongregation, der er vorstand. Der Stil der Zusammenarbeit, seine überragende Intelligenz, wurde nie als Arroganz erlebt. Sein feiner Humor brachte eine gewisse Lockerheit in den trockenen Alltag der Büros. Seine Kompetenz war unbestritten, aber er setzte sie nie ein, um andere seine Superiorität fühlen zu lassen. Als Mensch, als Vorgesetzter war er zweifellos eine überaus beeindruckende Gestalt. Und sein phänomenales Gedächtnis erlaubte es ihm, die Namen, die Sorgen, die Familien der Mitarbeiter im Gedächtnis zu behalten.

 

Ja, die Clelia hatte recht mit ihrer spontanen Antwort: "È un vero cristiano" - Er ist ein wahrer Christ. Umso überraschender war es für alle, die ihn persönlich kannten, das oft unfassbar negative Urteil über ihn in vielen Medien: "Großinquisitor" war ja noch harmlos. "Panzerkardinal" - schon weniger. Die englische Boulevardpresse titelte nach seiner Wahl "The Rottweiler". Was für eine Verkennung dieser liebenswürdigen Person, dieses Professors, den wir in seinem Schülerkreis so schätzten. Wie kam es zu diesem so negativen Feindbild? Für die, die ihn persönlich kannten, die seine Studenten waren, die ihn erlebt haben, klangen diese Urteile, als spräche man von einem anderen Menschen.

 

Keine Frage, der sanfte, liebenswürdige Professor wirkte für viele wie eine Provokation. Sie nahmen Anstoß. Er polarisiere, wie ihm häufig vorgeworfen wurde. Oft wurde das darauf zurückgeführt, dass angeblich der junge brillante Konzilsperitus Joseph Ratzinger eine Kehrtwende vollzogen habe: vom offenen, fortschrittlichen Jung-Theologen zum konservativen Bremser des Fortschritts, den angeblich das Konzil gewollt habe.

 

In den oft bitter und humorlos geführten Debatten nach dem Konzil wurde Kardinal Ratzinger - seit 1977 Erzbischof von München und seit 1982 dann Präfekt der Glaubenskongregation - zu einem der umstrittensten Theologen seiner Zeit. Vor allem seit er die Leitung der Glaubenskongregation innehatte, musste er im Auftrag des Papstes Johannes Paul II., der ihn dazu nach Rom geholt hatte, in Glaubensfragen offizielle Position beziehen und gelegentlich auch zu Positionen, die andere vertraten, sagen: "So nicht."

 

Ich erinnere mich gut an seine Anfänge in dieser heiklen Position, heiklen Mission. Er vertrat entschieden die Ansicht, dass die Aufgabe seiner Kongregation, die Glaubenshüter-Aufgabe, nicht zuerst war, abweichende Lehren zu verurteilen, sondern zuerst positiv die Lehre der Kirche darzulegen. Sein reichhaltiges theologisches Schaffen diente diesem Anliegen, den "intellectus fidei" zu fördern: das Verstehen des Glaubens, das denkerische Durchdringen der Glaubenswahrheiten, die "fides quaerens intellectum", der Glaube, der zu verstehen sucht.

 

Was freilich am meisten provozierte, war die Wahrheitsfrage. Wie kann jemand behaupten, die Wahrheit zu kennen und zu vertreten? "Veritatis Splendor" (Glanz der Wahrheit) war der Titel einer Enzyklika von Johannes Paul II., an der Kardinal Ratzinger mitgearbeitet hat. "Glaube, Wahrheit, Toleranz" ist einer seiner vielen Buchtitel.

 

Nun, Schwestern und Brüder, es ist hier nicht der Platz, auf diese Fragen ausführlich einzugehen. Ich kann nur ein paar Stichworte sagen: Als Studenten von Joseph Ratzinger hat uns immer wieder seine Methode fasziniert, die so viel sagt über seine Denkweise und auch seine Glaubensweise, sein Wahrheitsverständnis. Es war die "sokratische Methode". Er ging fragend vor, von Frage zu Frage entwickelte er seinen Gedankengang. Aber eine Überzeugung leitete ihn: dass die Wahrheit dem Suchenden aufleuchten und einleuchten kann und dass diese Fähigkeit ganz wesentlich zur Würde des Menschen gehört; weshalb nur die Wahrheit dem suchenden Menschen Befriedigung und Frieden schenkt; weshalb sie ihm auch nicht vorenthalten werden darf. Ingeborg Bachmann hat das berühmte Wort gesagt "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar".

 

Wie aber verhalten sich Glauben und Toleranz zum Anspruch auf Wahrheit? Joseph Ratzinger hat ein langes Leben lang diese existenzielle Frage auszuloten versucht. Er hat dabei immer wieder Anstoß erregt und vielen, vielen Menschen gleichzeitig Wegweisung geschenkt. Ich nehme nur ein Beispiel: das Dokument "Dominus Iesus" seiner Kongregation vom Jahr 2000. In diesem Dokument geht es um die Einzigartigkeit Jesu Christi in der Heilsvermittlung. Von ihr spricht die heutige Lesung, das Wort aus dem Hebräerbrief, das wir gehört haben, wenn es dort heißt: "Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott zuerst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten. In dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat".

 

Wie soll es bei einem solchen Ausschließlichkeitsanspruch noch einen ehrlichen Dialog geben, einen Dialog der Religionen, die das anders sehen? - Wenn schon feststeht, dass Christus der definitive Bote Gottes ist; und dass er die Wahrheit gebracht hat; und dass das Christentum die wahre Religion ist. "Dominus Iesus" lehrt auch, dass es eine einzige Kirche Christi gibt, die in der katholischen Kirche verwirklicht sei, ohne dass bestritten würde, dass die Kirche Christi in vielen Elementen in den anderen christlichen Kirchen verwirklicht sei. Die heftige Debatte, die um dieses Dokument ging, ist exemplarisch für Diskussionen, die das ganze Leben von Papst Benedikt geprägt haben.

 

Wie ist der Dialog, das offene Miteinander der Kirchen und Religionen möglich, ohne in einen bloßen Relativismus zu verfallen? Papst Benedikt war zutiefst davon überzeugt, dass dieser Dialog nur fruchtbar sein kann, wenn er die eigenen Glaubensüberzeugungen zur Sprache bringt und sie offen und ehrlich mit den anderen teilt. Sonst ist der Dialog nur ein Austausch von Höflichkeiten.

 

Besonders heikel ist die Wahrheitsfrage im weiten Feld der Politik, der Wissenschaft, des öffentlichen Lebens. Joseph Ratzinger hat ein großes Oeuvre hinterlassen, das noch viel zu wenig erschlossen ist über das Thema Politik und Ethik, Politik und Gewissen, Politik und Verantwortung. Ich denke hier, um es ganz kurz zu machen, an die beiden meisterhaften Reden, die für mich zu den ganz großen Zeugnissen seines Geistes gehören: in London im Parlament und im Bundestag in Berlin. In London hat er in faszinierender, überzeugender Weise gezeigt, dass die Rolle des Gewissens im politischen Handeln letztlich nie ausgeschlossen werden kann. Ja, dass sie den wahren Weg weist. Und in Berlin war es die heikle Frage nach dem Naturrecht, der Menschenwürde im politischen Handeln.

 

Dabei ist Joseph Ratzinger/Papst Benedikt immer behutsam vorgegangen. Er hat die relative Autonomie der Sachbereiche - der Politik, der Wissenschaft - immer respektiert. In seinem Gespräch mit dem deutschen Philosophen Jürgen Habermas hat Joseph Ratzinger auf die vorpolitischen moralischen Grundlagen des freiheitlichen Staates hingewiesen. Immer wieder hat er auf die Aufgabe der Politik hingewiesen, Macht unter das Maß des Rechtes zu stellen. Nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts muss gelten, hat er gesagt. Daher darf das Recht nicht von denen bestimmt werden, die die Macht haben, sich das Recht anzumaßen.

 

Papst Benedikt spricht ganz offen von den Pathologien der Vernunft und den Pathologien der Religion. Und deshalb bedürfen beide der gegenseitigen Reinigung und Heilung. Vernunft und Glauben helfen einander, sie brauchen sich. So haben ihn viele als einen Denker, Lehrer und Hirten erlebt, der vorschnellen Vereinfachungen widerstand und zum behutsamen Nachdenken einlädt.

 

Ich schließe diese viel zu Stichwort-artige Würdigung mit einer Erinnerung an das letzte Beisammensein des Schülerkreises mit ihm im August 2012, wenige Monate vor seinem Rücktritt als Papst. Wir hatten uns in Castel Gandolfo, wo er uns hin eingeladen hatte, zwei Tage lang über Ökumene ausgetauscht und etwas bekümmert festgestellt, dass die Stagnation des Dialogs unter den Christen bedrohlich geworden ist. Er aber schloss in seiner Zusammenfassung unserer Gespräche mit einem Wort, das uns allen unvergesslich bleibt in seiner Einfachheit und Tiefe. Es war wirklich im wörtlichen Sinn das letzte Wort, das er an seinen Schülerkreis gesprochen hat. Wir hatten später keine Treffen mehr. Er sagte über die Ökumene unter uns Christen: "Geht es nicht darum, dass wir aufeinander hören und voneinander lernen, was es heißt, heute Christ zu sein?"

 

Fünfeinhalb Monate später trat Papst Benedikt zurück. Papst Franziskus wurde zu seinem Nachfolger gewählt. Heute kann ich sagen: Schöner und einfacher hätte Papst Benedikt nicht formulieren können, was von Anfang an das Anliegen von Papst Franziskus ist und was er mit dem Wort Synodalität meint: Aufeinander hören und voneinander lernen, was es heißt, heute Christ zu sein. Die beiden Päpste waren sich einig, dass ihnen als Nachfolger des Apostels Petrus, dessen Berufung wir heute im Evangelium gehört haben, dass ihnen der Dienst der Einheit aufgetragen ist nicht nur für die Christen, sondern in gewisser Weise für die ganze Menschheitsfamilie.

 

Bewegend ist das Zeugnis des gemeinsamen Dokuments, das Papst Franziskus zusammen mit dem Imam Ahmad al-Tayyib, dem Leiter der al-Azhar-Universität in Kairo, formuliert hat über die universale Brüderlichkeit/Geschwisterlichkeit. Heißt das nicht: aufeinander hören und voneinander lernen, was es heißt, heute Mensch zu sein?

 

 

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