Predigt zu Festmesse "200 Jahre Gesellschaft der Musikfreunde in Wien"
Apg 14,21b-27
Offb 21,1-5a
Joh 13,31-33a.34-35
"Ich, Johannes" , schreibt der Seher von Patmos in dem Abschnitt aus der Geheimen Offenbarung, die wir heute gehört haben, "ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen … Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für Ihren Mann geschmückt hat.
Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei Ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.
Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu."
Dieser wunderbare Text spricht zu uns – noch genauso wie vor fast 2.000 Jahren – von Trost und Frieden, von der Stillung aller Sehnsüchte, vom Trocknen aller Tränen, vom Heilen aller Wunden, vom Tod des Todes, von der endgültigen und vollkommenen Beheimatung, vom ewigen Leben in der Gegenwart Gottes. Johannes spricht ihn einer Generation zu, die bereits in Verfolgung und Bedrängnis war, in der Zeit der Christenverfolgungen unter Kaiser Domitian (reg. 81-96). Was für eine Vision! Was für ein Glück, dieser Frieden, der sich aus dem Himmel herabsenkt, mitten in eine verängstigte und gequälte, verwundete und zerrissene Menschheit hinein!
Wir feiern heute das Ende des Jubiläumsjahres der Gründung der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde vor 200 Jahren. In welcher Situation fand diese Gründung statt! Tiefe Wunden hatten die Napoleonischen Kriege in ganz Europa, auch in unserem Land und in unserer Stadt hinterlassen. Wenigstens einige dieser Wunden zu lindern, hatten einige Damen aus Adelskreisen beschlossen. Aber wie?
Man einigte sich auf Benefizkonzerte, deren Einnahmen den Kriegsopfern und den Hinterbliebenen der Schlacht von Aspern (1809) zugute kommen sollten. Man wählte dazu Händels Oratorium zu Ehren der hl. Cäcilia, "Das Alexanderfest – oder: Die Macht der Musik" in einer Bearbeitung durch Wolfgang Amadeus Mozart. In diesem Oratorium geht es, kurz gesagt, um das Fest, das Alexander der Große nach seinem Sieg in der eroberten Stadt Persepolis im Jahr 330 vor Christus feiert. Der Kitharode Timotheus greift zu seinem Instrument und gewinnt mit seinem Spiel Macht über die Herzen. Mit einer kühnen und echt barocken Wendung zieht der Textdichter nun den Schluß: Wenn schon die Musik des Heiden Timotheus die Herzen rühren konnte, um wieviel mehr kann es dann die Musik der hl. Cäcilia, die aus dem Himmel, von Gott herabkommt?
Überwindung des Krieges und der Rache durch die an die Herzen rührende Macht der Musik, die These, daß Kunst den Menschen verändern kann, ihm nach den Schrecken des Krieges helfen kann, seine Würde wieder in den Blick zu bekommen:
Mir fällt hier immer die zutiefst bewegende Begebenheit ein, die sich in den letzten Lebenswochen Joseph Haydns zutrug: Am 12. Mai 1809 hatte Wien vor den Truppen Napoleons kapituliert, am 13. Mai rückten die feindlichen Trupen in Wien ein. Wenige Tage später begehrte ein junger französischer Husarenoffizier (sein Name ist überliefert, er hieß Clement Sulemy) Einlaß in Haydns Haus in einer Vorstadt (dem heutigen 6. Bezirk). Nicht etwa, um die Bewohner in Schrecken zu versetzen oder zu plündern, sondern – er sang Haydn zum Erstaunen aller die Tenorarie aus dessen Oratorium Die Schöpfung, "Mit Würd‘ und Hoheit angetan" vor, die den Menschen als Ebenbild Gottes beschreibt. Wenige Tage später starb Haydn. Nicht Gewalt und Krieg haben das letzte Wort, sondern Versöhnung, Güte und Würde.
Nun Zurück zum "Musikverein". Die genannten Konzerte, initiiert durch einen edlen und wohltätigen Zweck, bildeten den Keim, aus dem 1812 die Gründung der Gesellschaft der Musikfreunde entstand.
Die Idee der Freundschaft war in diesen schweren Zeiten nach dem Krieg besonders prägend: Überall bildeten sich "Freundeskreise" oder "Zirkel", in denen nach den Schrecken des Krieges die Stände – Adel und Bürgertum – enger zusammenrückten, und in denen die Kunstausübung einen besonderen Aufschwung nahm.
(Ein anderer "Freundeskreis", der gleichzeitig in Wien gewachsen war, ist jener um den Wiener Stadtpatron Clemens Maria Hofbauer, in dem sich aber keine Musiker, sondern hauptsächlich Dichter und Maler, Gelehrte und Philosophen zusammenfanden).
Durch die 2Gesellschaft der Musikfreunde" sollten nicht nur Konzerte veranstaltet werden, sondern die Gründer richteten ihren Blick sowohl in die Vergangenheit – deren reiche Schätze an Noten, Instrumenten und Büchern für die Zukunft bewahrt werden sollten – sondern sie richteten ihn auch in die lebendige Zukunft der kommenden Generationen, auf die musikalische Erziehung der Kinder und Jugendlichen: Ein Konservatorium wurde gegründet, an dem im Laufe der folgenden Jahrzehnte die berühmtesten Lehrer ihre Kenntnisse und ihre Begeisterung an die Jugend weitergaben. Einer dieser Lehrer war Anton Bruckner, der an diesem Konservatorium Harmonielehre, Kontrapunkt und Orgelspiel unterrichtete.
"Macht über die Herzen" übt auch seine noch als Linzer Domorganist, aber schon für die Wiener Hofmusikkapelle geschriebene Messe in f-Moll aus. Schon zu Lebzeiten Bruckners wurde heftig diskutiert, ob sich dieses Werk überhaupt für eine liturgische Aufführung eigne, ob es nicht vielmehr seinen Platz (nur) im Konzertsaal haben solle, so wie Beethovens Missa solemnis oder das Requiem von Giuseppe Verdi. Schon zu Lebzeiten Bruckners fand man die Messe zu dramatisch, zu theatralisch, und meist ganz einfach: zu lang.
Aber: Wie weit hatte man sich schon damals vom historischen Geschehen, das unserer Liturgie zugrundeliegt, gelöst, daß ein solches Werk als "zu dramatisch" erscheinen konnte?
Mit ein Grund für die Ablehnung durch manche Rezensenten war genau die erwähnte "Macht über die Herzen", die Bruckners Messe ausübte. Als Wortführer derjenigen Kritiker, die das Werk Bruckners ablehnten, mag Max Kalbeck gelten, der anläßlich der Aufführung zu Bruckners 70. Geburtstag im Großen Musikvereinssaal schrieb, die Messe sei zu sehr "kirchlich gebunden" (was eigentlich bei einer Meßvertonung nicht erstaunlich sein dürfte!), und daß sie deshalb nicht auch "in partibus infidelium" Gehör finden könne, wie andererseits etwa Beethovens Missa solemnis.
"Die Abonnenten der Gesellschaftskonzerte sind ja nicht lauter erlösungsbedürftige, reuige, arme Schächer, die … bei Bruckner Buße thun wollen." [1]
Und der ebenso gefürchtete Eduard Hanslick schrieb: "Bruckner, wie wir sehen, lebt als Kirchencomponist vorwiegend im Concertsaal. Diese Messen sind ob der Häufung ihrer Kunstmittel nicht blos ungeeignet für die Kirche, sie sind es auch in dem höheren Sinne, daß sie dem Gottesdienst sich nicht unterordnen, sondern ihn rücksichtlos beherrschen, die ganze Aufmerksamkeit der Gläubigen auf sich concentriren und so die Absichten der Kirche durchkreuzen."[2]
Die "Absichten der Kirche" wünschen aber gerade, so sagt es uns das 2. Vatikanische Konzil, für den Mitvollzug der Hl. Messe durch die Gläubigen das wache, aufmerksame Mitgehen mit dem dramatischen Inkarnations-, Passions- und Erlösungsgeschehen.
Nun ist gerade Bruckners Messe in f-Moll trotz ihrer Monumentalität auch ein zutiefst innerliches Geschehen, ein religiöses Bekenntnis des Komponisten von größter Intimität, das sich trotzdem oder vielleicht gerade deshalb unmittelbar auf uns Hörer überträgt. Hier, im visionären "Et incarnatus est", geschieht tatsächlich Inkarnation, das ewige Wort nimmt "Fleisch" an im Klang. In der Schilderung der Passion reihen wir Hörer uns in die kleine Schar der um Jesus trauernden Menschen unter dem Kreuz und an seinem Grab ein. Im "Et resurrexit" werden die Fesseln des Todes mit einer ungeheuren Dynamik gesprengt. Das "Sanctus" erinnert uns, daß wir die Eucharistie feiern in Vereinigung mit der Kirche des Himmels, mit allen Heiligen und Engelscharen. Im "Benedictus" , einer der wunderbarsten melodischen Inspirationen Bruckners, begegnet uns der sanftmütig auf einem Esel in Jerusalem einreitende Friedenskönig, der den glimmenden Docht nicht löscht und das geknickte Rohr nicht bricht.
Und das "Agnus" schließlich schlägt den Bogen zurück zur Gründung der Gesellschaft der Musikfreunde und an den Anfang unserer Überlegungen: Der Macht über die Herzen, die alle große Musik ausübt, können wir uns öffnen – oder aber verschließen. Bruckners Messe in f-Moll lädt uns ein, uns zu öffnen: Wie in der eingangs zitierten Vision des Sehers auf Patmos senkt sich am Schluß des "Agnus Dei", im "Dona nobis pacem", der Frieden wie die himmlische Stadt Jerusalem auf uns herab:
"Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen … Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für Ihren Mann geschmückt hat.
Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei Ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.
Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu."
Daß die Gesellschaft der Musikfreunde weiter unsere Herzen öffnen und uns beschenken möge mit der "Macht der Musik", das wünsche ich ihr und uns allen von Herzen!
[1] Max Kalbeck in der Montags-Revue vom 19. November 1894.
[2] Eduard Hanslick, Neue Freie Presse, 13. November 1894.