Mittwoch 20. November 2024
Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden. Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.
Lk 19 9-10
Predigten von Kardinal Christoph Schönborn

Predigt zu Fronleichnam

Predigt am 30. Mai 2013, im Dom zu St. Stephan von Kardinal Christoph Schönborn

Liebe Schwestern und Brüder!

 

In dem Evangelium, das wir eben gehört haben, bewegt mich eine Figur ganz besonders: der kleine Knabe, der fünf Gerstenbroten und zwei Fische hat. Ein kleiner Bub, schwer beladen mit fünf Brotlaiben. Wie hat er das getragen? Wo kommt er her? Was macht er da? Unter tausend Menschen ein kleiner Bub, mit fünf schweren Gerstenbroten. Warum schleppt er sie mit sich, will er sie verkaufen? Gehört er zu den vielen auf dieser Welt, die schon als Kinder arbeiten müssen? Ist er  geschickt worden, um ein bisschen Geld für die Familie zu verdienen? Was macht er da?

 

Ich möchte mit Ihnen ein wenig nachdenken über diesen kleinen Buben. Warum ist mir dieser kleine Bub so wichtig? Weil Jesus selber ein Kind geworden ist, Mensch geworden ist, empfangen im Schoß seiner Mutter, geboren, groß geworden, in die "Schule" gegangen, sein Handwerk gelernt – eben Mensch geworden ist. Er ist so sehr Mensch geworden, dass er sich hingeben konnte – seinen Leib zur Kreuzigung und er uns seinen Leib sogar zur Speise geben kann. Seinen Leib, den wir im schlichten Brot der Eucharistie verehren.

 

In entscheidenden Momenten hat Jesus oft ein Kind in die Mitte gestellt. Nicht uns, die Großen, die Erwachsenen, die Mächtigen, die Gescheiten, die Wichtigen. Er hat die Kinder in die Mitte gestellt: "Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, könnt ihr nicht eingehen in das Himmelreich", hat Jesus gesagt. Und: "Lasst die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht daran." Und: "Wer ein Kind aufnimmt in meinem Namen, nimmt  mich auf."

 

Heute verweist er uns den kleinen Knaben mit den fünf Broten: Was hat der Blick auf diesen Bub, auf die Kinder, uns heute zu sagen? Nicht den moralisch erhobenen Zeigefinger der Kirche. Er wird uns oft genug vorgeworfen. Ich möchte Sie einladen zu einem frischen, staunenden Blick: zu schauen, wie es Jesus getan hat – und daraus zu lernen. Denn das Evangelium spricht zuerst nicht zu den anderen, sondern zu mir. Es will meine Umkehr, es will mein Leben erreichen und verändern.

 

So möchte ich ein wenig bezeugen, was dieser kleine Bub mit den fünf Broten mir beim Nachdenken gesagt hat: Zuerst: Jesus und die Kinder. Ich glaube, wir können sagen: Die Einstellung Jesu zu den Kindern hat die Einstellung der Welt zu den Kindern verändert, hat einen neuen Blick auf das Kind ermöglicht. Aus dieser neuen Sicht auf das Kind, das nicht einfach nur ein unfertiges Wesen ist, das den Fehler hat, noch klein zu sein, sondern das kostbar ist, geradezu Vorbild dafür, wie das Reich Gottes aufzunehmen ist – dieser Blick auf das Kind hat zahllose Menschen ermutigt, sich für Kinder zu engagieren, nicht nur Christen, sondern Menschen in der ganzen Welt. Manchmal Menschen, die nichts vom Evangelium wissen, aber dem Evangelium gemäß leben und die uns darin ein Vorbild sein können.

 

Ich nenne nur ein paar Beispiele: Der weltweite Kampf gegen die Kinderarbeit. Wer weiß, was dieser Bub mit seinen fünf Broten schon alles erlebt hat, vielleicht schwere Kinderarbeit? Dann der Kampf um das Schicksal der Straßenkinder. Wie viele Menschen engagieren sich, um das Los der Straßenkinder zu lindern, zu bessern? Ich denke nicht nur an unseren P. Sporschill und Ruth Zenkert, die so Großartiges bis heute leisten, sondern an viele, viele in der ganzen Welt, die nicht wegschauen von der Not der Kinder. Dann der Kampf gegen das Engagement von Kindern als Soldaten - dieses schreckliche Geschehen, das in vielen Ländern der Welt immer noch eine Wirklichkeit ist. Es gibt so wunderbare Zeugnisse des Einsatzes für Kinder.

 

Ich denke an eine wirklich schöpferische Erfindung: "Mary’s Meals". Ein junger Schotte, Magnus McFarlane, hat die Not der Kinder in Malawi gesehen – dass Hunderte, Tausende, Millionen Kinder hungern. Mutter Teresa von Kalkutta hat einmal gesagt: "Wenn du nicht hunderte Menschen sättigen kannst, dann sättige wenigstens einen." So hat Magnus McFarlane mit einer Kinderausspeisung in Malawi begonnen, mit Spenden und Ehrenamtlichen. Heute werden Hunderttausende von Kindern weltweit durch Mary‘s Meals täglich mit einer warmen Mahlzeit versorgt und müssen nicht an Hunger sterben. Er hat das als einen Auftrag der Muttergottes in Medjugorje empfunden und hat das wunderbar umgesetzt.

 

Wie viel Großartiges hat die Fantasie der Nächstenliebe, der Liebe Jesu zu den Kindern, hervorgebracht! Ich darf hier auch den Hilfsfonds für Schwangere in Not erwähnen, den Kardinal König gegründet hat. Es ist eine kleine Wirklichkeit in unserer Stadt und in unserem Land - aber Tausenden Müttern ist geholfen worden, Ja sagen zu können zum Kind, das sie unter dem Herzen tragen.

 

Oder diese neue Initiative auf europäischer Ebene: "One of Us". Es ist das erste europäische Volksbegehen! In Österreich hat es bereits 200 Prozent der notwendigen Stimmen erbracht, und man kann sich noch weiter einschreiben. Eine wunderbare Initiative! One of Us: Jedes Kind ist eines von uns, und wir alle sind seine Geschwister.

 

Brüder und Schwestern, lassen Sie mich zum Schluss eine Sorge aussprechen: Manchmal habe ich den Eindruck, dass wir mit unserer christlichen Sicht, mit unserem christlichen Menschenbild immer mehr in die Defensive geraten, immer mehr im Rückzug sind. Eine Position nach der anderen muss aufgegeben werden, weil der Mainstream und die Gesetzgebung, die ihm folgt, in eine andere Richtung gehen. Sind wir Katholiken immer nur die Neinsager – hört man nicht das Ja zum Leben, das Ja zur Schönheit des Lebens?  One of Us – jedes Kind ist eines von uns! Hört man immer nur das Nein, wenn wir sagen: Jedes Kind braucht Vater und Mutter? Oder wenn wir die Stimme gegen ein neues Adoptionsgesetz erheben. Es ist nicht das Nein, es ist das Ja.

 

Wir dürfen daran erinnern – und ich sage das nicht, als würden wir als "die Anständigen" die "Unanständigen" kritisieren, ich sage das als Sünder zu Sündern, als Mensch zu Menschen, die wir uns in der Gemeinsamkeit unseres Menschseins auch finden können, über die Gräben, über die unterschiedlichen Sichtweisen hinweg –, dass es vor allem darum geht: Wir haben nicht ein Recht auf Kinder, sondern wir müssen die Rechte der Kinder achten! Oft hat man den Eindruck, dass Kinder verzweckt werden: Der Kinderwunsch - der berechtigte Kinderwusch, und wie tief ist der Schmerz der Kinderlosigkeit! - wird so zum egoistischen Anspruch.

 

Aber an erster Stelle muss das Kind stehen, das Wohl des Kindes. Dazu gehört wesentlich und entscheidend, dass ein Kind Vater und Mutter hat und darum wissen darf. Ich weiß, wie komplex die Situationen sind, und wie viel Gutes auch in ganz komplexen Familien- und Beziehungskomplexen geschieht – wie viel Gutes, das auch Anerkennung verdient und Dank für alle Großherzigkeit. Aber diese komplexen Situationen dürfen uns nicht daran hindern, den Leitstern vor Augen zu haben: das Wohl des Kindes, das Vater und Mutter braucht, und dem Vater und Mutter das Leben gegeben haben.

 

So schließe ich mit dem Blick auf diesen kleinen Buben mit seinen fünf Broten und zwei Fischen: Vielleicht hat er uns wirklich etwas zu sagen, auch heute, wenn wir das eucharistische Brot des Herrn verehren.

 

Amen.

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