Samstag 21. Dezember 2024
Predigten von Kardinal Christoph Schönborn

Predigt 50 Jahre Vikariate, 14.September 2019

Predigt zur Vikariatsmesse, Dom zu St. Stephan

Kardinal Dr. Christoph Schönborn

Liebe Schwestern und Brüder!

 

Heute früh ist mir erst bewusstgeworden, dass ich fast die Hälfte dieser 50 Jahre jetzt schon Erzbischof bin. Da bin ich fast erschrocken. 1994 war ich noch Weihbischof, da war das silberne Jubiläum der Vikariate, jetzt das Goldene. Das ist hoffentlich nicht wie bei einer Ehe, wo danach nur mehr das Diamantene vorauszusehen ist und dann ist es zu Ende. Nein, das hoffen wir nicht für die Vikariate. Ich habe in meiner Bischofszeit eigentlich nur die Vikariate gekannt. Ich bin 1970 von Kardinal König zum Priester geweiht worden, da gab es die Vikariate schon. Sie waren noch ganz jung, aber es gab sie schon.

 

Vor meiner Ernennung zum Weihbischof kennt ich natürlich Wien, besonders wenn man so weit weg von Wien in einem Bundesland wie Vorarlberg lebt, dann hat man gewisse Vorurteile gegen Wien, aber das teilen ja alle Bundesländer. Aber das Weinviertel war mir schon sehr früh vertraut und sehr geliebt durch das Retzer Dominikanerkloster, in dem ich so viel Zeit verbracht habe. Inzwischen glaube ich schon, dass ich auch die beiden anderen Vikariate kennengelernt habe. Ich habe es nicht geschafft, alle Dekanate persönlich zu visitieren, aber doch in jedem der Vikariate eine ganze Reihe von Dekanaten. Natürlich auch viele, viele Begegnungen mit den Vikariaten. Manche können natürlich sagen: Sicher viel zu wenige!

 

Aber ich möchte heute mit Ihnen, nachdem beim Festakt über die Vikariate geredet wird, die Schrifttexte betrachten und Sie einladen, dass wir sie miteinander lesen im Blick auf das, was wir heute feiern.

 

Das erste Wort, das mir aufgefallen ist, ist in der Lesung aus dem Buch Numeri: „Das Volk aber verlor auf dem Weg die Geduld“, heißt es in der neuen Einheitsübersetzung, in der alten Übersetzung hieß es „den Mut“. Beides hängt sehr zusammen. Geduld verlieren, den Mut verlieren. Das Volk verlor auf dem Weg den Mut, die Geduld angesichts der Wüstensituation. Ja, Wüstensituation, wir werden weniger, wir werden älter, natürlich gibt es Gott sei Dank auch Junge, aber die Versuchung ist bei dieser Feier der Vikariate, dass wir nur zurückblicken. Wir müssen auch zurückblicken, das ist gut, aber es ist auch gefährlich. Denn das Volk Gottes hat in der Wüste eine Erfahrung gemacht, dass man die Vergangenheit glorifiziert. Plötzlich ist in der Erinnerung Ägypten ein Paradies gewesen, dabei waren sie dort Sklaven. Und die Gegenwart ist nur Mühe, Wüste, kein Wasser und kein Brot. Anderswo heißt es ja, wie das Volk rebelliert und in der Erinnerung an die Fleischtöpfe Ägyptens denkt und das gute Gemüse, das es dort gab, den Lauch, und dann wird alles aufgezählt. Eine Romantisierung der Vergangenheit, jetzt gibt es nur das Manna, kein ordentliches Brot und kein Wasser. Dann kommen bei diesem Murren die Giftschlangen. In der neuen Übersetzung heißt es „Feuerschlangen“, ich weiß nicht wie Feuerschlangen ausschauen, aber sie beißen, und ihr Biss ist tödlich.

 

So möchte ich Sie fragen: Was sind die Giftschlangen/Feuerschlangen in unserer Situation? Ich nenne ein paar, die mir in den Sinn gekommen sind. Das Murren über die Gegenwart. Es ist alles so schlecht. Das Murren gegenüber denen da oben. Jetzt möchte ich mich nicht rechtfertigen, dass Ihr zu Unrecht murrt über die Diözesanleitung. Natürlich nicht nur über mich, sondern über die ganze Diözesanleitung. Aber sie murren ja auch, nicht nur gegen Mose, sondern gegen Gott. Murren gegen Gott und gegen Mose. Warum habt ihr uns herausgeführt in diese Situation? Warum habt ihr uns nicht in Ägypten in Ruhe gelassen?  Murren über unsere Situation. Mutloses Murren ist tödlich. Das sagt uns dieser heutige Text. Dürfen wir jetzt gar nicht mehr kritisch sein? Keine unangenehmen Fragen stellen? Das Volk merkt, dass etwas nicht in Ordnung ist, und die Bisse erinnern sie daran: so geht es nicht weiter. So kommt es zur Umkehr, zur Besinnung. Wir haben gesündigt. Jetzt möchte ich nicht sagen, liebe Brüder und Schwestern, dass ihr jetzt alle sagen müsst: Wir haben gesündigt und wir waren alle in Ordnung. Nein, wir alle brauchen die Umkehr.

 

Jetzt geschieht etwas Eigenartiges. Sie sagen: Wir haben gesündigt, nicht die Situation ist verfahren, nicht die böse Welt, nicht die anderen sind schuld, nicht die oberen, nicht der liebe Gott, wir haben gesündigt. Dann geschieht etwas Eigenartiges, eine Umkehr. Plötzlich wird die Schlange zum positiven Zeichen. Moses macht eine metallene Schlange und hängt sie auf eine Stange und wer auf diese Schlange schaut, der wird gerettet, geheilt.

 

Jetzt frage ich mich: Was bedeutet das für uns? Es gibt einen positiven Blick auf die Gegenwart und die Vergangenheit. Wenn wir in der Erinnerung die Vergangenheit nicht verherrlichen oder glorifizieren, sondern wenn wir Dank und Lob Gottes über seine Taten erreichen, „Vergesst die Taten Gottes nicht!“ Das ist der Tenor, das ist die Grundmelodie der ganzen Bibel im alten Bund. Wenn wir uns erinnern und zurückblicken, dann ist es der Blick auf die Gotteserfahrungen, die Taten Gottes. Wo haben wir Gott wahrgenommen? Ich erinnere mich jetzt, das war irgendwie so eine Grundintention auch mit unseren Diözesanversammlungen. Vergesst die Taten Gottes nicht! Nicht dass man keine offenen Mikrofone hat, Diskussion ganz wichtig, Sorgen, kritisches Feststellen, Aussagen, aber erinnern wir uns daran: Wo haben wir Gott erfahren? Wo sind die Spuren seiner Gegenwart, seines Wirkens? Daraus sollen wir dann den weiteren Weg entdecken.

 

Damit bin ich, Brüder und Schwestern, beim Evangelium, bei diesem langen Nachtgespräch Jesu mit Nikodemus. Bei diesem langen Nachtgespräch sagt Jesus dieses unvergleichliche Wort: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab“(Joh 3,16). Gottes großes Ja zur Welt, nicht nur zur Kirche, sondern zur Welt. Gottes großes Ja. Dann sagt Jesus „Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, nicht zu richten, sondern zu retten“. Das ist doch das Schlüsselwort gerade jetzt bei diesem Gedenken über die 50 Jahre und im Ausblick auf das Kommende. 

 

Ich möchte hier erinnern auf das, was ich bei der ersten Diözesanversammlung 2010 gesagt habe. Ich habe damals am Anfang von den „5 Ja“ gesprochen, die die Voraussetzung sind, dass wir einen positiven Zugang zur Wirklichkeit, zur Welt, zu unserem Auftrag haben. Ich nenne sie nur ganz kurz, denn es wäre zu lang, sie im Einzelnen zu nennen.

Ja sagen zu unserer Zeit, zum Heute. Wir leben heute und Gott sagt uns „Heute, wenn ihr meine Stimme hört, verhärtet euer Herz nicht“.

Heute ja sagen zu unserer Situation. Sie ist, wie sie ist voller Herausforderungen, aber auch voller Chancen.

 

Ja sagen zu unserer gemeinsamen Berufung als Getaufte, Gefirmte. Das Thema gemeinsames Priestertum aller Getauften. Wir haben oft darüber gesprochen bei unseren Diözesanversammlungen.

 

Das Ja zur Stellvertretung, das ist mir so wichtig geworden im Laufe der Jahre. Keiner glaubt für sich alleine. Wir sind immer auch Stellvertreter für viele andere. Wenn uns der Glaube geschenkt ist, diese Gnade glauben zu dürfen, dann heißt das auch: Ich glaube für andere mit, ich trage andere mit, ich bete für andere mit, ich gehe für andere mit den Weg des Glaubens.

Schließlich das fünfte Ja, das Ja zu unserem gesellschaftlichen Auftrag, der noch deutlicher geworden ist. Der soziale Auftrag unserer Gemeinden, der Kirche, der Auftrag der kirchlichen Gemeinschaften, das große Netzwerk der Nächstenliebe. Ich denke jetzt gerade, weil wir dieser Tage wieder davon gesprochen haben: LeO, was ist das für ein großartiges Netzwerk der Nächstenliebe, das da gespannt wurde und weiterlebt! Ja zu unserem gesellschaftlichen Auftrag.

Schwestern und Brüder, diese 5 Ja sind sozusagen ein Umbuchstabieren, ein Ausbuchstabieren des großen Ja Gottes zur Welt. Sosehr hat Gott die Welt geliebt. Jetzt zum Schluss dieses Ja Gottes zur Welt hat einen Namen. Es ist, wie wir in der zweiten Lesung gehört haben, „der Name über allen Namen, damit im Namen Jesu jedes Knie sich beuge“, der Name Jesu. Deshalb meine große Bitte und ich sehe darin den Leitstern für unseren weiteren Weg. So einfach und doch so vielgestaltig, so herausfordernd im Konkreten: auf Jesus schauen, auf Christus schauen. So wie Mose die Schlange auf einer Stange erhoben hat, so sagt Jesus dem Nikodemus, so muss der Menschensohn erhöht werden, im Blick auf ihn, der gestorben und auferstanden ist.

 

Ich habe vor 24 Jahren am 1. Oktober 1995 das Amt übernommen und habe es unter den Schutz der kleinen heiligen Thérèse gestellt. So damals ist das Bild hinten im Dom und schon in den ersten Tagen haben die Messner mir gesagt: Die kleine heilige Thérèse bewährt sich, es brennen viele Kerzen, das bringt auch ein Geld ein. Immer brennen dort die Kerzen, und seit meinem Amtsantritt brennt immer auch eine Kerze von mir. Von der kleinen Thérèse ist dieses eine Wort mir ganz besonders im Herzen: „Pour t'aimer je n'ai  rien qu'aujourd'hui“ – „Um dich zu lieben, habe ich nur Heute“.  Gestern ist vergangen, Morgen haben wir noch nicht im Griff, aber Heute. In diesem Heute begegnen wir ihm, der heute bei uns ist, lebendig. Ein zweites Wort der kleinen Thérèse, das mich immer begleitet: „La confiance, rien que la confiance“ – Das Vertrauen und nichts als das Vertrauen. Vertrauen auf Gott und das Vertrauen untereinander. Da möchte ich wirklich sagen: Das ist für mich die Basis unseres ganzen Zusammenarbeitens, das Vertrauen. Gegenseitiges Vertrauen, weil dem Herrn vertrauend.

 

Im Lauf der Jahre ist mir eine andere heilige Frau sehr nahe gekommen, - früher habe ich über sie ein bisschen die Nase gerümpft, weil das so frömmelnd klingt, aber ich muss sagen, ich habe mich da entwickelt -, das ist die heilige Faustyna. Eine ganz einfache Schwester, der aber Jesus eine so wichtige Botschaft für unsere Zeit gegeben hat, das grenzenlose Vertrauen in die Barmherzigkeit Gottes. Wie oft war mir wirklich als armer Sünder diese Worte Jesu an die heilige Faustyna, die erste heiliggesprochene des neuen Jahrtausends, dieses Wort, das Jesu ihr immer wieder gesagt hat, dass sie es sagen soll: „Jezu, ufam tobie“ – Jesus, ich vertraue Dir.

Liebe Brüder und Schwestern, ich gebe Ihnen heute diesen Gedanken mit, „um dich zu lieben, habe ich nur Heute“. Um unseren Weg zu gehen, habe ich nur heute. Im Heute finden wir Ihn und durch Ihn auch einander.

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