Mittwoch 13. November 2024
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Joh 4,19
Stellungnahmen von Kardinal Christoph Schönborn

"Querida Amazonia"- ein Kommentar von Christoph Kardinal Schönborn

Kommentar zum Nachsynodalen Schreiben „Querida Amazonia“ (Geliebtes Amazonien) von Papst Franziskus von Kardinal Christoph Schönborn

 

 

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Das nachsynodale apostolische Schreiben „Querida Amazonia“ (Geliebtes Amazonien) geht einen neuen, überraschenden Weg. Papst Franziskus stellt selber das Schlussdokument der Synode vor. Er präsentiert jenes Dokument, „das uns die Ergebnisse der Synode darbietet“ (3).

Der Papst stellt also das Schlussdokument der Synode in die Mitte und gibt ihm ein starkes Gewicht, indem er es selber „offiziell präsentieren möchte“ (3).

 

Keine "Generalklausel"

Was bedeutet dieses „offiziell“? Das erklärt Papst Franziskus nicht direkt. Gibt er dem Schlussdokument der Synode das Gewicht eines Textes, den er sich zur Gänze selber zu eigen macht? In seinem postsynodalen Schreiben „Amoris Laetitia“ gebraucht er oft Formulierungen dieser Art, wenn er von manchen Texten der Synode ausdrücklich sagt, er mache sie sich zu eigen.

 

Aber eine solche Generalklausel, die das ganze Dokument der Amazonien-Synode beträfe, formuliert er nicht. Wenn er „dieses Dokument (mit seinem Schreiben) offiziell präsentieren will“, so verfolgt er damit eine Absicht, die viel von dem verrät, was er unter Synodalität, unter einem synodalen Weg versteht. Deshalb scheint mir sein ungewöhnliches Vorgehen mit diesem postsynodalen apostolischen Schreiben auch für die ganze Kirche ein Lehrstück zu sein, wie als Kirche synodal zu leben. Ein Stück weit zeigt er in diesem überraschenden Schritt, das ganze Synodendokument selber „offiziell zu präsentieren“, was er bereits in der Einleitung zu „Amoris Laetitia“ zu bedenken gegeben hat:

 

„Ich möchte erneut darauf hinweisen, dass nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen. Selbstverständlich ist in der Kirche eine Einheit der Lehre und der Praxis notwendig; das ist aber kein Hindernis dafür, dass verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, weiterbestehen. Dies wird so lange geschehen, bis der Geist uns in die ganze Wahrheit führt (vgl. Joh 16,13), das heißt bis er uns vollkommen in das Geheimnis Christi einführt und wir alles mit seinem Blick sehen können. Außerdem können in jedem Land oder jeder Region besser inkulturierte Lösungen gesucht werden, welche die örtlichen Traditionen und Herausforderungen berücksichtigen. Denn » die Kulturen [sind] untereinander sehr verschieden, und jeder allgemeine Grundsatz […] muss inkulturiert werden, wenn er beachtet und angewendet werden soll «“(AL 3).

 

Die Kirche hat sich durch alle Jahrhunderte an diese weise Praxis gehalten, nicht immer alles durch die höchste Lehrautorität entscheiden zu wollen und der legitimen Vielfalt, den verschiedenen Inkulturationen, dem gemeinsamen Suchen nach der ganzen Wahrheit genügend Raum zu lassen, ohne dabei die Einheit der Kirche und der Lehre zu gefährden.

Wie aber versteht Papst Franziskus seinen Dienst, die Schlussfolgerungen der Synode, deren Abschlussdokument „offiziell“ zu präsentieren? Wie sieht er seine Aufgabe mit dem postsynodalen Schreiben? In den Artikeln 2 bis 4 erklärt er selber „den Sinn dieses Schreibens“, in gut jesuitischer Tradition in drei Punkten.

 

Wie Papst Franziskus selbst das postsynodale Schreiben sieht

  1. Mit seinem Schreiben will Papst Franziskus die „resonancias“ ausdrücken, die die Synode auf ihrem Weg des Dialogs und der Unterscheidung in ihm ausgelöst haben. Er will das Synodendokument weder ersetzen noch wiederholen. De facto zitiert er es nirgends, sondern empfiehlt es als Ganzes der Lektüre. Er will zu dem von der Synode Gesagten seine Reflexionen hinzufügen, die im Blick auf Amazonien einige der großen Anliegen zusammenfassen, die er in anderen Dokumenten bereits behandelt hat. Damit will er helfen, dass es zu einer harmonischen, fruchtbaren, kreativen Rezeption des synodalen Weges kommt (2).
     
  2. Ganz nüchtern begründet er, warum er auf diese Weise das Schlussdokument der Synode „offiziell präsentieren“ will: Am Synodendokument „haben so viele Personen mitgearbeitet, die die Problematik Amazoniens viel besser kennen als ich und die Römische Kurie“ (3). Eine solche Selbstbescheidung ist ein erfreuliches Zeichen, dass die Ortskirchen ernstgenommen werden.
     
  3. Die Arbeit der Synode soll die ganze Kirche bereichern und herausfordern: Amazonien gewissermaßen als Lernort für die Weltkirche (4). Dazu will Papst Franziskus die ganze Kirche einladen, indem er auf die Erfahrungen und Herausforderungen eingeht, die in der Synode zur Sprache kamen.

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Vier Träume für Amazonien

Das Schreiben des Papstes ist vier Träumen gewidmet, die ihn bezüglich Amazonien bewegen: der Kampf für die Armen und ihre Rechte; die Wahrung des kulturellen Reichtums; der Schutz der Natur und ihrer Schönheit; Christliche Gemeinden, die der Kirche ein „amazonisches“ Gesicht geben.

 

  • Ein sozialer Traum

Von Anfang an macht Papst Franziskus klar, dass ein ökologischer „Konservativismus“ in Amazonien für nichts gut ist, wenn er gleichzeitig die Völker Amazoniens vergisst (8). Ökologie und Humanökologie sind untrennbar, wie schon Papst Benedikt (vgl. 41) betont hat. Die massiven Ungerechtigkeiten, Menschenrechtsverletzungen, denen die Indigenen ausgesetzt sind, muss die Kirche beim Namen nennen. Papst Franziskus wiederholt die Vergebungsbitte für die Mitschuld der Kirche an den Vergehen gegen die Indigenen seit der Eroberung Amerikas (19). Das darf sie nicht hindern, heute politische und wirtschaftliche Korruption zu bekämpfen, die die Völker Amazoniens besonders schwer treffen.

 

  • Ein kultureller Traum

Mehr als 110 indigene Völker leben in dem riesigen Territorium von Amazonien (7.500 000 km2). Die Situation ist höchst komplex, wie die Synode deutlich gemacht hat: Das kulturelle Erbe, das anzestrale Wissen, die Kosmovision der indigenen Völker ist vielfach bedroht durch die massive Abwanderung in die Städte, den Kulturschock der modernen Welt, die Migration. All das verändert dramatisch das Leben der Völker Amazoniens, wie ich es auch in vielen direkten Erfahrungsberichten während der Synode hören konnte. Papst Franziskus ist weit entfernt von einem romantischen Bild der Urwaldvölker: „Es ist nicht meine Absicht, einen völlig abgeschlossenen, ahistorischen, statischen Indigenismus vorzuschlagen, der jede Form von Mestizaje ablehnt“ (37). Mestizaje, Mestizentum, d.h. die für Lateinamerika (im Unterschied zu Nordamerika) so typische, seit der Conquista praktizierte Mischung der Europäer mit den Indigenen und den Afrodeszendenten, ist für Papst Franziskus ein Schlüsselwort zum Verständnis Lateinamerikas. Gleichzeitig betont der Papst mit der Synode „die Rechte der Völker und Kulturen“ (40), die besonders bedroht sind, nicht zuletzt durch das, was sich an ökologischem Drama in Amazonien abspielt.

 

  • Ein ökologischer Traum

Ohne „Laudato si“, die „Umweltenzyklika“ von Papst Franziskus, wäre die Arbeit der Synode nicht das geworden, was sie wurde: ein großer Hilferuf des gewaltigen Ökosystems Amazonien. Mir klingt noch in den Ohren, was Professor Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung den Synodenteilnehmern gesagt hat: „Die Zerstörung des Amazonien-Waldes ist die Zerstörung der Welt.“ Papst Franziskus sagt es deutlich: „Das planetarische Gleichgewicht hängt auch von der Gesundheit Amazoniens ab“ (48). Und noch deutlicher: „Das Interesse einiger mächtiger Unternehmen darf nicht über dem Wohl von Amazonien und der ganzen Menschheit stehen“ (48). Aber mehr als um Proteste gegen eine „Wirtschaft, die tötet“ geht es Papst Franziskus um eine Haltung, die er „die Prophetie der Kontemplation“ (53) nennt, eine Haltung, die die Welt nicht nur als Material für die Produktion und den Konsum sieht, sondern sie als Gabe Gottes respektiert. Letztlich ist es eine Frage der Liebe: „Wir können Amazonien lieben und es nicht nur benützen“ (55). Und diese Haltung ist es letztlich, um die es in einer „Pastoral der Präsenz“ in Amazonien geht.

 

  • Ein Kirchentraum

Medial und in weiten Kirchenkreisen aller Schattierungen wird dieses 4. Kapitel von „Querida Amazonia“ wohl am meisten diskutiert werden, wie das 8. Kapitel von „Amoris Laetitia“. Und hier wiederum wird alles sich auf eine Frage konzentrieren: Wird der Zölibat „gelockert“ oder nicht?

Papst Franziskus schafft es wieder, alle zu enttäuschen, die hier eine Schwarz-weiß-Antwort erwartet haben. Aber wieder versucht er, die Perspektive zu erheben, zu weiten oder zu vertiefen, um den Konflikt zwischen zwei Positionen zu überwinden (vgl. 104).

 

 

Pastoral in Amazonien

Ich erlaube mir, zu diesem ausführlichsten Kapitel nur einige Hinweise zu geben. Die Prämisse zum ganzen Thema der Pastoral in Amazonien ist die Dringlichkeit der Evangelisierung (62). Franziskus versteht darunter vor allem die direkte Verkündigung Jesu Christi, das Kerygma (64-65). Auf der Synode habe ich viele gefragt, warum in Amazonien die „Pfingstler“, die Evangelikalen, die Freikirchen einen solchen Erfolg haben. Denn immer wieder war zu hören und zu lesen, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Katholiken (manche sagen 60-80%) zu diesen Kirchen gegangen sind. Mich hat erstaunt, ja erschüttert, dass dieses höchst vitale Thema kaum angesprochen wurde. Aber eines wurde meist als Ursache genannt: Die „Pfingstler“ sprechen direkt von Jesus Christus. Sie verkünden das Kerygma, während die katholische Verkündigung dies zu wenig tue. Papst Franziskus erinnert deshalb an die großen Evangelisierer Lateinamerikas wie den hl. Toribio von Mogrovejo (65).

 

Inkulturation

Als zweiten pastoralen Schwerpunkt nennt Franziskus die Inkulturation. Die Synode hat sich intensiv damit befasst, bis hin zur Debatte um und zum Wunsch nach einem eigenen „Amazonien-Ritus“. Papst Franziskus behandelt die Frage der Inkulturation allgemein. Das Thema des eigenen Ritus erwähnt er nur in einer Fußnote als einen Vorschlag der Synode, ohne diesen zu bewerten (82, Anm. 120). Interessant sind die Klarstellungen bezüglich indigener Symbole, die aus Mythen der Völker erwachsen sind und im christlichen Sinne gedeutet werden (79). Man erinnert sich an die unsäglichen Aktionen gegen die „Pachamama“-Figuren während der Synode.

 

Eucharistie

Dass die Eucharistie „Quelle und Höhepunkt“ des ganzen christlichen Lebens ist, betont Franziskus entschieden (82). Was aber bedeutet das, wenn es an Priestern mangelt, ohne die es keine Feier der Eucharistie gibt (85)? Papst Franziskus gibt darauf keine schnelle Antwort. Er erwähnt auch mit keinem Wort den Vorschlag der Synode, die Möglichkeit zu eröffnen, dass bewährte ständige Diakone für die entlegensten Gegenden Amazoniens zu Priestern geweiht werden können (Amazonien-Synode Nr 111). Schließt er es aus? Bestätigt er implizit den Text der Synode, indem er ihn „offiziell präsentiert“ (3)?

 

Einige Elemente seiner Exhortatio sehe ich als Aufforderung des Papstes, alle bisher zu wenig begangenen Wege intensiv zu nutzen, um die prekäre Situation des Priestermangels zu beheben, ohne gleich auf die viri probati, die verheirateten Priester als „Ausweg“ zu kommen.

Der Papst betont einerseits die Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit des sakramentalen Priestertums, anderseits aber seinen völligen Dienstcharakter für das Volk Gottes und seine Heiligung (87). Wenn es stimmt, dass „die Eucharistie die Kirche macht“, d.h. aufbaut, dann dürfen die Völker Amazoniens nicht der Sakramente der Eucharistie und der Vergebung entbehren (89). Also doch die viri probati als (Not-)Lösung?

 

Die Fußnoten

Von „Amoris Laetitia“ sind wir gewohnt, dass Papst Franziskus Wichtiges in Fußnoten sagt. Drei sind mir besonders aufgefallen. Eine habe ich schon genannt: Die Fußnote 120 zum umstrittenen Amazonien-Ritus. Die Anmerkung 132 spricht diskret ein großes Thema an. Es wurde auf der Synode direkt genannt: Dass manche Amazonienländer mehr Priester nach Europa oder Nordamerika entsenden als in die eigenen Vikariate in Amazonien. Auf der Synode wurde die Zahl 1200 solcher Priester allein in Kolumbien genannt. Würde nur ein Drittel oder ein Viertel dieser Priester für die Amazoniendiözesen zur Verfügung stehen, dann gäbe es kaum Priestermangel vor Ort.

 

Indigener Klerus

Eine Feststellung hat mich auf der Synode erschüttert: der fast vollständige Mangel an indigenen Priestern. Wie ist es möglich, dass nach 500 Jahren Christentum in dieser Region praktisch kein einheimischer Klerus entstanden ist? Beeindruckend war das Zeugnis des ersten indigenen Priesters aus dem Salesianerorden, der zur Synode sprach. Papst Franziskus erwähnt in Anmerkung 133 das Fehlen von Seminaren für Indigene.

 

Stängiges Diakonat

Schließlich erwähnt Papst Franziskus ein Thema, das im Schlussdokument Platz gefunden hat: der erstaunliche Mangel an ständigen Diakonen, „die in Amazonien viel zahlreicher sein müssten“ (92). Warum wurde diese Chance, die das II. Vatikanum eröffnet hat, nicht mehr genützt?

Nüchtern schließt Papst Franziskus dieses Thema ab: „Es geht also nicht allein darum, eine größere Präsenz von geweihten Amtsträgern zu ermöglichen, die die Eucharistie feiern können. Das wäre ein zu begrenztes Ziel, wenn wir nicht versuchen, auch neues Leben in den Gemeinden zu wecken“ (93).

 

Die Aufgabe der Laien

Mit Nachdruck betont er die Wichtigkeit der vielfältigen Laiendienste, die Notwendigkeit, reife, mit Autorität versehene Laienheiten zu fördern (94), und da besonders „die Präsenz von starken und großherzigen Frauen, die die Taufe spenden, Katechese halten, Vorbeterinnen, Missionarinnen“ (99). Sie sollten einen festen Status und eine deutlichere Teilhabe in der Kirche haben, ohne deshalb „klerikalisiert“ zu werden (100). In der Stärkung der schon seit eh und je unersetzbaren Rolle der Frauen vor allem in den entlegenen Gemeinden Amazoniens sieht Papst Franziskus eine vorrangige Aufgabe (101-103).

 

Die „Lösung“ liegt im „Je-Größeren"

Am Schluss kommt Papst Franziskus auf ein Wort zurück, das er in seinen Schlussworten zur Synode gebraucht hat. Er sprach vom „desborde“, vom „Überströmen“, wie es ein Brunnenbecken tut, das voll ist. Es erinnert an das „magis“ des hl. Ignatius, das Je-Größere. Es geht nicht darum, „die Probleme zu relativieren, ihnen auszuweichen oder die Dinge zu lassen wie sie sind“ (105). Die „Lösung“ liegt im „Je-Größeren“, das Gott oft überraschend schenkt. „Aus dieser neuen Gabe, angenommen mit Mut und Großherzigkeit, aus dieser unverhofften Gabe entspringt eine neue und größere Kreativität. Aus ihr werden wie aus einer großzügigen Quelle die Antworten strömen, die uns die Dialektik nicht zu sehen erlaubte“ (105).

 

Mit dieser Hoffnung auf das Je-Größere des Wirkens Gottes, das Überraschende seiner Wege, blickt Papst Franziskus auf die immense Komplexität des „Geliebten Amazoniens“. Er hat keine simplen Lösungen parat, aber die Freude des Evangeliums gibt ihm jene Zuversicht, die sich nicht entmutigen lässt. Und er sagt all dies nicht nur für Amazonien, sondern für uns alle.

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