WO BLINDE SEHEN, TAUBE HÖREN UND LAHME GEHEN
Liebe Frau Teibler, Sie haben drei Mal in Folge die Messe im Stephansdom zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen musikalisch begleitet, was war Ihre Intention, sich den Herausforderungen dieser Musikvermittlung zu widmen?
Inklusive Musikvermittlungsprojekte in liturgischen Kontext zu realisieren, bedeutet den Gottesdienst auf musikalischer Ebene zu bereichern und das jeweilige Thema zu unterstreichen. Meine Intentionen gehen von verschiedenen Zugängen aus. Erstens bietet die Musik viele Möglichkeiten für Menschen, inklusiv miteinander zu interagieren. Im Zusammenspiel werden verschiedenste Kommunikationskanäle angeregt und gefördert. Durch die Zusammenarbeit bei Proben und der Aufführung der Werke bei der Messe, entstehen menschliche Interaktionen, die für alle Beteiligten bereichernd sind und auch Grenzen überwinden helfen. Zweitens bietet die musikalische Messgestaltung Menschen mit Behinderung (Kinder, Jugendliche und Erwachsene) die Möglichkeit, aktiv am öffentlichen musikalischen Leben teilzunehmen. Und Drittens bildet die Liturgie einen strukturellen als auch thematischen Rahmen, wo ich bemüht war, diesen mit passenden Stücken zu unterstreichen bzw. auch durch die Musik Anregungen zu geben. Die Musik soll den thematischen Bogen der Feier tragen.
Was macht es so spannend, wie erleben Sie Ihre Arbeit?
Mein persönlicher Zugang zu Inklusion bedeutet, einen Raum zu schaffen, in dem sich Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen begegnen können. Dieser Raum bietet die Möglichkeit, sich mit seinen individuellen Stärken einzubringen. Durch gemeinsame Aktivitäten kann ein gegenseitiges Kennenlernen und Überwinden von Vorurteilen und Grenzen stattfinden. Von meinem Beruf als Musikerin und Pädagogin ausgehend ist dieser Raum ein musikalischer. Musik, die für jeden verständliche internationale Sprache ermöglicht ein weites kreatives Feld für inklusive Projekte. Für mich als Initiatorin, Koordinatorin und Vermittlerin dieser Projekte eröffnen sich neue Perspektiven und Welten, die die Begegnungen mit Menschen stetig um unzählige Facetten bereichern.
Begonnen haben Sie 2021 mit „beethoven.goes.visual“, was kann man sich darunter vorstellen?
2020 war das große Beethoven-Jahr (am 17. Dezember 2020 jährte sich sein 250ster-Geburtstag), im Zuge dessen ich das Projekt „beethoven.goes.visual“ realisiert habe.
Thematischer Ausgangspunkt war Beethovens post-linguale Schwerhörigkeit bis hin zur Taubheit. Im Rahmen dieses Kontextes haben sich hörende als auch hör-beeinträchtigte Jugendliche mit der Musik Beethovens und Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ auseinandergesetzt. Jugendliche des Bundesinstitut für Gehörlose haben erstmals den Text Schillers‘, von Ludwig van Beethoven im letzten Satz seiner Neunten Symphonie vertont, in Österreichische Gebärdensprache übersetzt und passend zur Musik choreographiert. Hörbeeinträchtigten Menschen Musik nahe zu bringen, scheint für manche ein Paradoxon. Musik jedoch ist viel mehr als Hören. Sie besteht auch aus Bewegungen, Schwingungen, und dem Wahrnehmen der anderen Personen. So war für mich besonders beeindruckend, dass eine von Geburt an gehörlose junge Teilnehmerin meinte: „Am Anfang war es immer schwer hineinzukommen, aber dann war ich auf einmal drinnen und es war wunderschön.“ Wenn dieser Perspektivenwechsel stattfindet, dann ist ganz viel gelungen.
2022 stand Jakob van Eyck, selbst blind, als Blockflötenvirtuose im Mittelpunkt. Was war die Idee dahinter, wer war eingebunden in die Gestaltung?
Das inklusive Musikvermittlungsprojekt „Van Eyck erleben“ ermöglichte sehbehinderten Kindern und Jugendlichen die Musik des blinden Barockkomponisten und Flötisten Jacob van Eyck (ca. 1590–1657) zu entdecken und durch aktives Musizieren selbst zu erleben. Ziel des Projektes war die Integration und Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen beim Gottesdienst für Menschen mit Behinderung am 3. Dezember 2022. In musikalischer Hinsicht ist die positive Herausforderung für alle Teilnehmenden ein Wachsam-Sein auf mehreren Ebenen: haptisch, visuell, akustisch - alle Sinne ansprechend. Dazu folgendes Beispiel: Um das Fehlen der visuellen Ebene beim Musizieren zu kompensieren und einen gemeinsamen Einsatz zu Beginn des musikalischen Stückes zu erlangen, wird laut eingezählt und/oder bewusst hörbar eingeatmet. Mitwirkende waren Schülerinnen und Schüler der Musikschulen Wien sowie des Bundesblindeninstituts Wien.
Das vergangene Jahr stand ganz im Zeichen von zwei Herren namens Schubert. Was verbindet Karl mit Franz Schubert?
Das Motto der Messe am 3. Dezember 2023 war „Seid achtsam – seid wachsam“. In diesem Kontext habe ich zwei Namensvettern aus verschiedenen Jahrhunderten mit dem Projektnamen „Schubert meets Schubert“ verbunden. 2023 jährte sich der 195. Todestag von Franz Schubert (1797-1828), daher wurden Teile aus seiner Deutschen Messe, GL 711 gesungen. Karl Schubert (1889-1949) war Österreichischer Heil- und Waldorfpädagoge, sowie enger Vertrauter von Rudolf Steiner. Während der NS-Zeit hat er seelenbedürftige Kinder- und Jugendliche unterrichtet. Er ist Namensgeber für die Karl Schubert Schule für seelenpflegebedürftige Kinder und Jugendliche im Liesing.
Sowohl Franz als auch Karl Schubert waren in ihrer Zeit in vielfacher Weise achtsam und wachsam. Der Komponist lebte zu Zeiten politischer Unterdrückung, in der sich die Bevölkerung immer mehr in die häusliche Sicherheit zurückzog, um dem Machtsystem des Metternich’schen Polizeistaates zu entrinnen. Schubert nahm also achtsam und feinfühlig die Strömungen der damaligen Zeit auf und bot Menschen durch seine „wachsame“ Musik Rückzugsgebiete in einem durch Repressalien geprägten Alltag. Der Heilpädagoge wiederum verfolgte wachsam die Entwicklungen des NS-Regimes und reagierte achtsam durch seinen privaten und damals „illegalen“ Unterricht auf die unmenschlichen Bedingungen, denen seine Schülerinnen und Schüler ausgesetzt waren.
Inklusive Musikvermittlungsprojekte sind Begegnungszonen, wo Menschen, die einander im Alltag wenig bis gar nicht begegnen, die Möglichkeit haben, einander kennen zu lernen.
Bei dem Projekt Schubert meets Schubert lag der Fokus auf fähigkeitsgemischten Gruppen. Es musizierten ein inklusiver Generationen-übergreifender Chor bestehend aus Mitgliedern des Chores der Karl Schubert Schule und dem inklusiver Erwachsenenchor aus Kaltenleutgeben sowie dem Jugendchor der Musikschule Perchtoldsdorf, NÖ)
mit einem inklusiven Blockflöten-Ensemble und der inklusiven Rock-Band der Karl Schubert Schule. Vor der Aufführung fanden gemeinsame Proben statt, bei denen das freudvolle Musizieren spürbar war. Durch die Musik werden kommunikative, soziale und interkulturelle Kompetenzen erworben, und es wird eine Kultur des Miteinanders gelebt.
Welche Projekte verfolgen Sie jetzt?
2024 wird der 150ste Geburtstag von Arnold Schönberg gefeiert. Er lebte in den Jahren von 1918-1925 in Mödling, wo er auch seine Methode der Komposition mit 12 Tönen entwickelte. Das diesjährige Projekt widmet sich der pädagogischen Klaviermusik der Wiener Schule. Musikschulschüler und Studenten sind eingeladen im Mödlinger Schönberghaus Klavierwerke von Schönberg sowie seinen Schüler/innen und Enkelschüler/innen im Rahmen eines Konzertes am Donnerstag, den 14. November 2024 um 18:30 Uhr zu präsentieren.
Dr.in Antonia Teibler ist Musikwissenschafterin, Musikpädagogin, Musikvermittlerin und Fagottistin. Sie studierte Fagott am Konservatorium der Stadt Wien, Musikwissenschaft und Publizistik an der Universität Wien sowie Spanisch und Geschichte an der Universidad Nacional Autónoma de México. Als praktizierende Musikerin ist sie vor allem im kammermusikalischen Bereich tätig und übt ihre Lehrtätigkeit in NÖ aus.