Das Wunder vom Jakobskogel
Blickt man von Reichenau zum Massiv der Rax mit seiner markanten Silhouette, fällt nahe beim Otto-Haus die Erhebung des Jakobskogels auf. Darauf kann man je nach Lichtverhältnissen und der eigenen Sehkraft ein Gipfelkreuz erkennen.
Steht man selber nach dem eindrucksvollen Erlebnis der Bergfahrt mit der Raxbahn und einer schönen Höhenwanderung zum Otto-Haus dann auf dem Jakobskogel vor seinem Gipfelkreuz, liest man auf der Gedenktafel im Natursteinsockel den Spruch:
„Unser großes stummes Händefalten ist nur gerichtet auf Gerechtigkeit.“
Anton Wildgans
und darunter: „Freiheitskreuz errichtet von der österreichischen Jugendbewegung N.Ö. 1955
Renoviert vom Oe.A.V. Sektion Reichenau 1981“
Der damalige Landessekretär der Österreichischen Jugendbewegung Niederösterreich, Peter Klar, war bei der Planung und Errichtung des Freiheitskreuzes vor 65 Jahren mit dabei. In seiner Erzählung erinnert er sich, dass die Österreichische Jugendbewegung bereits im Dezember 1954 fest entschlossen war, zum 10. Jahrestag der Besatzung Österreichs 1955 als Mahnmal, Ausdruck des Freiheitswillens und Zeichen der Hoffnung der Österreicher auf dem Jakobskogel ein Gipfelkreuz zu errichten.
Am 8. Februar 1955 reichten sie beim Amt der NÖ Landesregierung das Ansuchen um Baubewilligung ein.
Noch wagte es kaum jemand, an das Wunder zu glauben, dass Österreich bald seine Freiheit wiedererlangen könnte.
Bald danach konnten die Staatsvertragsverhandlungen unter der Führung des Niederösterreichers, Bundeskanzler Julius Raab, in Moskau erfolgreich abgeschlossen werden. Und die Unterzeichnung des Staatsvertrages durch die Außenminister der vier alliierten Mächte – Sowjetunion, Großbritannien, USA, Frankreich – und dem Außenminister Österreichs, dem Niederösterreicher Leopold Figl, konnte vorbereitet werden.
Am 15. Mai 1955, wurde das Wunder des lang ersehnten Staatsvertrages im Schloss Belvedere Wirklichkeit. Nach sieben Jahren nationalsozialistischem Terrorregime und zehn Jahren Besatzung war Österreich endlich wieder frei und unabhängig.
Einige Tage später waren die einzelnen Stahlteile des Gipfelkreuzes schon auf dem Weg und wurden mit der Bahn nach Payerbach-Reichenau, vom Bahnhof mit der Schmalspurbahn nach Hirschwang, von dort mit der Seilbahn auf die Rax und mit einem Fahrzeug zum Ottohaus gebracht. Die Gruppe innerhalb der Österreichischen Jugendbewegung, die sich „Die Niederösterreicher in Wien“ nannte, trug dann die Teile von dort den Weg zum Gipfel hinauf.
Mit fachmännischer Hilfe eines Schlossers verschweißten und montierten sie die Teile und stellten das Stahlkreuz von acht Metern Höhe auf dem vorbereiteten Sockel auf und sicherten es mit Stahlseilen.
Am Sonntag, dem 19. Juni 1955 nahm der Dompfarrer von Salzburg und Generalsekretär der Katholischen Aktion, Johannes Innerhofer, die feierliche Segnung des neuen Gipfelkreuzes vor. Landesobmann Franz Stangler und Landessekretär Peter Klar konnten bei strahlendem Wetter hunderte mitfeiernde Gäste begrüßen.
So wurde das Kreuz, das als Mahnmal für die Freiheit gedacht war, mit großer Dankbarkeit zum ersten Denkmal der wiedererlangten Freiheit Österreichs.
Der lang ersehnte Wunsch nach Freiheit war durch viele Gebete und den starken Glauben der Österreicherinnen und Österreicher an ihr Heimatland getragen.
Nicht zuletzt durch den unerschütterlichen Willen einer Gruppe junger Menschen und ihrem deutlichen Zeichen der Hoffnung geschah dieses „Wunder vom Jakobskogel“.
Hermann Scherzer