Der blaue Himmel trügt
„In der Maria-Theresien-Straße in Innsbruck, steht die Spitalkirche. Ich gehe gern in dieses leise Rückzugsgebiet inmitten der städtischen Geschäftigkeit. Sie birgt für mich aber auch eine starke Erinnerung, denn einmal hat ihre Turmuhr in mein Schicksal hineingeschlagen.
Nach der Sperre der Hofkirche durch Hitlers Regime haben die Franziskanerpatres ihre Gottesdienste in der Spitalkirche gefeiert. Meine Mutter war fast täglich dort. Es war eine schwere Zeit für sie, als Rechtlosigkeit und Terror herrschten.
In der Karwoche 1942 wurden die hl. Messen mit wenigen Gläubigen in frühester Morgenstunde gefeiert. Meine Mutter nahm an der Karfreitags-Liturgie vom Leiden und Sterben Jesu teil.
Als sie am Heimweg die Maria-Theresien-Straße überquerte, schlug die Turmuhr sieben Mal. Meine Mutter überfiel plötzlich der Gedanke, ich sei in großer Gefahr. Sie wusste ja nicht einmal, wo ich in den Weiten Russlands war. Die Beklommenheit und das Angstgefühl waren so groß, dass sie auf der Stelle umkehrte und in die Kirche zurückging und vor dem Bild der ,,Mutter Gottes vom Guten Rat” knien blieb.
Die Nacht auf Karfreitag war die schlimmste in der Schlacht bei Ramuschewo am Ilmensee. Wir lagen am Rande einer Waldwiese. Das Thermometer zeigte 52 Grad unter Null. Der Schnee war meterhoch und die Kälte lähmend. 150 Meter vor uns hatte sich am Abend zuvor ein sibirisches Scharfschützen-Regiment eingegraben.
Ich lag mit meinem Funkgerät hinter einer niederen Mauer in der vordersten Linie und konnte vor Kälte kaum die Tasten des Gerätes bedienen. Aber als Funker musste ich wenigstens nicht schießen. Da kam der Befehl, wir sollten am Morgen um halb acht Uhr angreifen. Um sieben Uhr früh griffen die Russen an. In breiten Wellen kamen sie über die Wiese, hatten aber fürchterliche Verluste. Immer neue Wellen rollten auf uns zu.
Um halb acht Uhr ging meine Mutter von der Kirche nach Hause.
Zur gleichen Zeit riss mir eine russische Kugel das Funkgerät aus der Hand. Der Soldat neben mir wurde durch einen Kopfschuss getroffen. Aber ich hatte unsagbares Glück. Der Schuss ging mitten durch den Unterarm, verletzte aber weder die Knochen noch die Hauptschlagader. Ein Verwundetenschlitten in der Nähe jagte mit mir zum Verbandsplatz. Als die letzten Granaten überstanden waren, warf ich mit einem Freudenschrei den Stahlhelm in die Büsche und setzte meine Mütze auf. Ich war gerettet und der Hölle entronnen.
Viel später, auf Genesungsurlaub zu Hause, verglich ich die Erzählung meiner Mutter mit dem, was in den Wäldern vor Ramuschewo zur gleichen Zeit geschah. Es stimmte alles genau überein. Aber da war noch etwas anderes, und nur deswegen habe ich diesen Karfreitag 1942 dem Vergessen entrissen. Das möchte ich Dir gerne weitergeben. Das Wissen: Du bist in Gottes Hand. Mit dieser Fügung zwischen dem Gebet einer Mutter in der Kirche der Heimatstadt und dem Schlachtfeld am russischen Ilmensee hat Er mich daran erinnern wollen, dass die Geschicke, wie sie auch laufen, immer in seiner Hand sind. Für mein späteres Leben als Seelsorger wollte Er mir auch einprägen, dass das Gebet etwas ganz Großes ist!“
Mein persönlicher Bezug zu Reinhold Stechers Erinnerungen sind die fürbittende Gebete meiner Mutter und meiner Großmutter, die mir in meiner Jugend wirksam Hilfe und Richtung gegeben haben. Auch in unserer Zeit, wo wir mit Menschen in der ganzen Welt digital verbunden sein können, ist es sehr hilfreich, das besondere Netzwerk unseres liebenden Vaters im Himmel zu kennen.