Gott Vater zu nennen heißt auch, sich daran zu erinnern, dass Gottes langer Atem Zeit zu Umkehr und Lebensänderung lässt, mir und allen anderen.
Gott Vater zu nennen heißt auch, sich daran zu erinnern, dass Gottes langer Atem Zeit zu Umkehr und Lebensänderung lässt, mir und allen anderen.
Generalvikar Nikolaus Krasa schreibt über das Evangelium zum 17. Sonntag im Jahreskreis (24.7.2016)
Knapp vor der Entstehung des Lukasevangeliums und vermutlich etwa ein Jahrzehnt nach Jesu Tod und Auferstehung denkt ein gelehrter Jude in Alexandria über das Schicksal seines Volkes nach.
In der Weltstadt Alexandria lebte die damals größte jüdische Diasporagemeinde. Das Delta-Viertel dieser Großstadt im Nildelta beherbergte mehr Juden als ganz Jerusalem. Ihre Diasporagemeinde war immer wieder Anfeindungen und progromartigen Übergriffen ausgesetzt. Warum muss Gottes Volk leiden?
Der gelehrte Jude findet in der Grundbeziehung der weisheitlichen Tradition Israels eine Antwort.
Das dort gebrauchte Lehrer-Schüler Verhältnis überträgt er auf sein Volk: Israel ist Schüler Gottes, damit Sohn Gottes, der von Gott rechtes Verhalten, „Menschenfreundlichkeit“, lernt.
Genau das unterscheidet Israel von seinen Gegnern. Sie sind nicht Schüler Gottes, sie lernen nicht und zerbrechen schließlich daran.
Die Erfahrungen des Exodus, des Auszuges aus Ägypten werden dafür zum historischen Vorbild: Weil Israel im Unterschied zu den Ägyptern von Gott lernt, findet Israel den Weg in die Freiheit.
Allerdings: So schnell und eindeutig, wie in den Erfahrungen des Exodus, läuft es in der Gegenwart oft nicht. Denn Gott hat einen langen Atem, er ist geduldig, er straft nicht sofort, sondern schenkt immer wieder Raum für Umkehr und Neuanfang – so die Reflexionen des gelehrten Alexandriners, die uns im Buch der Weisheit überliefert sind.
Wenn Jesus seinen Gott, wie es die Evangelien immer wieder bezeugen, „Vater“ nennt und dementsprechend seine Jünger Gott Vater zu nennen lehrt, dann klingen für mich die Reflexionen des gelehrten Alexandriners an.
Gott Vater zu nennen heißt daher, bereit zu sein, von Gott zu lernen, sein Schüler zu sein.
Gott Vater zu nennen heißt, sich damit in die Schar seiner Schüler, in seine Lerngemeinde, in sein Volk einzugliedern.
Gott Vater zu nennen heißt, aus der biblischen Tradition das Vertrauen zu schöpfen, dass Gott sich um seine Schüler kümmert.
Gott Vater zu nennen heißt zu erfahren, dass Gott in der Anfechtung und Bedrängnis neues Leben schenkt.
Gott Vater zu nennen heißt bereit zu sein, von Gott Menschenfreundlichkeit zu lernen.
Gott Vater zu nennen heißt auch, sich daran zu erinnern, dass Gottes langer Atem Zeit zu Umkehr und Lebensänderung lässt, mir und allen anderen.
Lic. Dr. Nikolaus Krasa
ist Generalvikar der Erzdiözese Wien und
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