Wenn ich heute das Evangelium vom verlorenen Sohn lese, muss ich an die vielen tausenden Flüchtlinge aus der Ukraine denken, die alles verlassen mussten, um ihr Leben zu retten. Werden sie jemals wieder nach Hause heimkehren können?
Wenn ich heute das Evangelium vom verlorenen Sohn lese, muss ich an die vielen tausenden Flüchtlinge aus der Ukraine denken, die alles verlassen mussten, um ihr Leben zu retten. Werden sie jemals wieder nach Hause heimkehren können?
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 27. März 2022
Zweifellos ist das Gleichnis vom verlorenen Sohn das schönste und berührendste Gleichnis Jesu. Es ist meisterhaft erzählt, spannend vom ersten bis zum letzten Wort. Die Geschichte ist bekannt: Der jüngere von zwei Söhnen fordert vom Vater die Auszahlung seines Erbteils. Der Vater gibt dieser eigentlich unverschämten Forderung nach und zahlt ihn aus. Bald hat der Sohn sein Erbteil in einem fernen Land verschleudert und gerät in große Not. Da besinnt er sich. Es ist noch keine echte Reue, sondern die praktische Überlegung: Zu Hause gibt es wenigstens etwas zu essen! Er macht sich auf den Heimweg. Was dann geschieht, ist für ihn unfassbar: Sein Vater macht ihm keine Vorwürfe. Er umarmt ihn, nimmt ihn auf und bereitet ein großes Fest für seinen zerlumpten, heruntergekommenen Sohn.
Die Spannung steigt, als der ältere Sohn von der Arbeit heimkommt und merkt, dass der Vater diesem nichtsnutzigen Sohn sein liederliches Leben verzeiht und ihn mit allen Ehren zu Hause wieder aufnimmt. Wie geht die Geschichte aus? Jesus lässt sie offen. Wird der ältere Bruder die Freude seines Vaters teilen oder bleibt er im Zorn über seinen Bruder stecken?
In diesem Gleichnis steckt ein großer Reichtum an Bedeutungen. Eine ist mir besonders wichtig geworden. Der missratene Sohn hatte in seiner Not eine Gewissheit: Ich kann immer noch nach Hause kommen! Im Moment spricht mich das ganz persönlich an. Vor einem Monat starb meine Mutter mit fast 102 Jahren. 77 Jahre lang war ich es gewohnt, dass ich immer nach Hause kommen kann. Sie ist da, und ich bin willkommen. Was für ein Geschenk, ein Zuhause zu haben, zu wissen, dass ich dort erwartet und willkommen bin! Jetzt, da sie gestorben ist, wartet niemand mehr zu Hause. Gewiss, ich glaube, dass sie bei Gott ist und uns daher nahe bleibt. Aber in all den Veränderungen des Lebens gab es immer den Fixpunkt: das Zuhause. Jetzt fehlt er.
Wenn ich heute das Evangelium vom verlorenen Sohn lese, muss ich an die vielen tausenden Flüchtlinge aus der Ukraine denken, die alles verlassen mussten, um ihr Leben zu retten. Werden sie jemals wieder nach Hause heimkehren können? Als meine Mutter 1945 mit ihren damals zwei Kindern flüchten musste, konnte sie nicht ahnen, dass sie ihren Kindern ein neues Zuhause bereiten würde. Doch auch dieses Zuhause müssen wir verlassen. Jesus aber sagt mit seinem wunderbaren Gleichnis: Im Haus meines Vaters bist du immer willkommen! Mag dein Leben noch so schwierig gewesen sein, der Vater kommt dir mit offenen Armen entgegen: Mein Kind, jetzt bist du ganz zu Hause!