Freundschaft ist etwas ganz anderes als „Freunderlwirtschaft“. Sie bewährt sich in schweren Stunden. Da bleiben einem nur die echten Freunde.
Freundschaft ist etwas ganz anderes als „Freunderlwirtschaft“. Sie bewährt sich in schweren Stunden. Da bleiben einem nur die echten Freunde.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 15 . Mai 2022
Was wünscht sich eine Mutter, die weiß, dass sie sterben wird, für ihre Kinder? Vermutlich nichts anderes als was Jesus sich im Angesicht des Todes für seine Familie erhofft: „Liebt einander!“ Alles andere verliert an Bedeutung, denn ohne die Liebe hält keine Familie zusammen, auch nicht die Gemeinschaft, die Jesus um sich gesammelt hat. Und Jesus bringt es kurz und bündig auf den Punkt: „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“
Nichts stößt Menschen so sehr von der Kirche ab wie die Lieblosigkeit. Und nichts spricht deutlicher von Jesus und seinem Anliegen, als wenn echte Liebe gelebt wird. Denn eines ist klar: Wenn es etwas gibt, was Jesus mehr als alles andere am Herzen lag, dann ist es die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Die Nächstenliebe, ohne viele Worte, war immer schon die beste Werbung für das Christentum. Sie ist überzeugender als alle hohen Lehren und Reden. Jesus nennt sie im heutigen Abschnitt aus seinen Abschiedsworten sein „neues Gebot“. Warum ist es neu? Liebe ist doch die älteste und tiefste Sehnsucht jedes Menschen. Was ist sie eigentlich, die Liebe? Alle reden von ihr, alle wollen wir geliebt sein, und doch gibt es um die Liebe so viel Leid und Streit.
Da hilft es, sich ein wenig Klarheit zu verschaffen über das, was alles hinter dem Wort Liebe steckt. Seit Menschengedenken wurde darüber nachgedacht. Mir hat persönlich das klassische Buch des Engländers C.S. Lewis (1898-1963) geholfen: „The Four Loves“, die vier Formen der Liebe (deutsch: „Was man Liebe nennt“). Lewis unterscheidet Zuneigung, Freundschaft, Eros und Agape. Die Zuneigung sieht er als die schlichteste und häufigste Form der Liebe. Am deutlichsten ist sie in der Liebe zwischen Eltern und Kindern zu finden, aber auch zwischen Mensch und Tier. Das lebenslange Band zwischen der Mutter und ihren Kindern ist von dieser Art. Das Kind braucht die ganze Zuneigung der Eltern. Es ist ja noch völlig abhängig. Und die Eltern tun (hoffentlich) ganz selbstverständlich das, was das Kind in seiner Bedürftigkeit braucht. Wie jede Art der Liebe kann die Zuneigung Fehlformen annehmen, etwa wenn die Mutterliebe das Kind nicht freigibt, wenn die Anhänglichkeit an ein Haustier übertrieben wird.
Freundschaft ist nach C.S. Lewis die zweite Form der Liebe. Es ist etwas ganz Kostbares, wenn eine Freundschaft über viele Jahre hält. Sie gibt dem Leben Halt und hilft besonders in bedrängten Zeiten. Manche Dinge kann man nur mit einem guten Freund besprechen, ihm anvertrauen. Freundschaft ist etwas ganz anderes als „Freunderlwirtschaft“. Sie bewährt sich in schweren Stunden. Da bleiben einem nur die echten Freunde.
Eros ist die Form der Liebe, an die wir meistens denken, wenn wir von Liebe sprechen. Sie ist die Kraft der gegenseitigen Anziehung, das Verlangen nach Nähe, körperlicher und seelischer Vereinigung. In allen Liebesliedern wird sie besungen, sie sehnt sich nach Treue, Dauer, Gelingen, und erfährt doch so oft Enttäuschung. Gefühle kommen und gehen, sind stürmisch und flauen ab. Was wirklich hält, was alle Krisen überdauert, ist die Agape, die Liebe, die dem anderen das Gute will und nicht zuerst an sich selber denkt. „Liebt einander!“ Jesu „neues Gebot“ ist die große Einladung, die alle Formen der Liebe gelingen lässt. Gottes Zuneigung zu uns, seine Freundschaft mit uns, seine Leidenschaft für uns: daraus lebt die Liebe!