Beten ist die Grundhaltung des Gottvertrauens. Es trägt uns auch dann, wenn wir an unsere letzte Grenze kommen.
Beten ist die Grundhaltung des Gottvertrauens. Es trägt uns auch dann, wenn wir an unsere letzte Grenze kommen.
Gedanken zum Evangelium, von Kardinal Christoph Schönborn, am Sonntag, 29. Mai 2022, (Johannes 17,20-26).
Wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, nichts anderes mehr geht, dann sagen oder hören wir meist diesen Spruch. Bei schwerer Krankheit, wenn die Kunst der Ärzte am Ende ist, dann kann man nur mehr beten. Im schon viel zu langen Krieg in der Ukraine scheint eine friedliche Lösung weit entfernt zu sein. Bleibt nur das Beten um das Wunder des Friedens? Gebet als letzte Zuflucht? Ist das nicht das Eingeständnis der Ohnmacht, das Versagen aller menschlicher Macht? Ist das Gebet überhaupt eine Macht? Kann es den Lauf der Dinge ändern oder wenigstens mildern?
Blieb auch Jesus am Ende nur das Gebet? Die Frage ist berechtigt. Sie ist nicht respektlos. Am Ende seines irdischen Lebens, im Angesicht des nahen Todes, betet Jesus. Er hat seinen Weg abgeschlossen. Mit seiner kleinen Schar hält er ein letztes Mahl, bevor er hinausgeht zum Garten Gethsemani. Dort werden sie ihn verhaften, ihn den Römern ausliefern und seine Kreuzigung verlangen. Am Ende dieses Mahles betet Jesus lange, ganz offen, vor seinen Jüngern. Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, berichtet davon.
Jesus hat getan, was er konnte. Menschlich gesehen war er gescheitert. Seine Botschaft wurde von nur wenigen angenommen. Das Reich Gottes, das er verkündete hat, ist nicht gekommen, zumindest nicht so, wie viele es sich erhofft hatten. Statt eines erfolgreichen Retters erleben die Leute einen machtlosen Gefangenen, der schließlich am Kreuz sein Leben aushaucht. Ist sein letztes Gebet ein Ausdruck seiner Ohnmacht? Was tun wir, wenn wir in einer ausweglosen Situation zum Gebet Zuflucht nehmen? Ist es ein Versuch, sich über das Unausweichliche hinwegzutrösten? Oder ist das Gebet die Möglichkeit, mit dem eigenen Schicksal positiv umzugehen?
Das Gebet Jesu zeigt, welche Kraft das Beten hat, wie es scheinbar ausweglose Situationen verwandeln kann. Wer betet, vertraut. Beten heißt sich selber und die eigene Situation in Gottes Hand zu legen. Jesus betet: “Heiliger Vater, ich bitte dich nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben.” Beten hat immer auch mit Loslassen zu tun. Jesus weiß, dass er sich nicht mehr so um seine Jünger kümmern kann wie bisher. Erst recht nicht um die, die später auch an ihn glauben werden. Deshalb legt er die ganze Zukunft seines Werkes Gott, seinem Vater, ans Herz. Er weiß, dass er bald sterben wird. Er wird zu Gott zurückkehren. Ganz entschieden bittet er Gott, dass auch seine Jünger einmal, wenn sie gestorben sind, mit ihm sein werden: “Vater, ich will, dass alle, die du mir gegeben hast, dort bei mir sind, wo ich bin.” Eine sterbende Mutter wird nicht anders beten für ihre Kinder, Enkel und weiteren Nachfahren: dass alle einmal im ewigen Leben beisammen sein mögen. Und dass sie schon in diesem Leben miteinander gut sind: “Alle sollen eins sein”, so wie Jesus mit Gott eins ist.
Beten als letzter Notnagel, wenn nichts anderes mehr hilft? Das wäre ein grobes Missverständnis des Gebets. Wer sich bewusst ist, dass wir nichts sicher in der eigenen Hand haben, wird jeden Tag für alles dankbar sein, Leben, Gesundheit, Frieden, denn nichts davon ist selbstverständlich. Beten ist die Grundhaltung des Gottvertrauens. Es trägt uns auch dann, wenn wir an unsere letzte Grenze kommen.
In jener Zeit erhob Jesus seine Augen zum Himmel und betete: Heiliger Vater, ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben. Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins sind, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, dass du mich gesandt hast und sie ebenso geliebt hast, wie du mich geliebt hast. Vater, ich will, dass alle, die du mir gegeben hast, dort bei mir sind, wo ich bin. Sie sollen meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast, weil du mich schon geliebt hast vor Grundlegung der Welt. Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt, ich aber habe dich erkannt und sie haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und ich in ihnen bin.