Ganz anders ist die Situation, wenn wir Menschen persönlich kennenlernen, mit ihnen bekannt und vertraut werden.
Ganz anders ist die Situation, wenn wir Menschen persönlich kennenlernen, mit ihnen bekannt und vertraut werden.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 19. Juni 2022.
Es ist ein großer Unterschied zwischen dem, was „die Leute“ meinen, und dem, was wir persönlich sagen. Leider haben wir von den meisten Menschen nur oberflächliche Kenntnis, allgemeine Eindrücke, sehr oft auch Meinungen, die wir von anderen übernehmen, ohne sie zu prüfen. Das alles schlägt sich nieder im Tratsch und Klatsch über die anderen. Wer von uns kann ehrlich sagen, er nehme nicht teil an diesem Gerede? Und fast immer findet es statt in Abwesenheit der Person, über die wir reden.
Ganz anders ist die Situation, wenn wir Menschen persönlich kennenlernen, mit ihnen bekannt und vertraut werden. Dann verändert sich unser Urteil, die Vorurteile lösen sich auf, die Person wird sichtbar, lebendig, es kann eine echte Beziehung entstehen, eine Freundschaft sich entwickeln, ja es kann eine gegenseitige Liebe aufkeimen. Dann ist es unwichtig geworden, was „die Leute“ über diesen Menschen sagen. Er ist mir wichtig und wertvoll geworden.
Das heutige Evangelium spricht von einer ähnlichen Situation. Jesus fragt seine Begleiter: „Für wen halten mich die Leute?“ Die Antworten sind durchaus positiv. Sie zeigen, dass die meisten Menschen Jesus positiv gesehen haben. Für sie war er ein echter Prophet. Nicht erwähnt wird, dass zwar „das Volk“ Jesus schätzt, dass aber die religiösen Autoritäten ihm gegenüber höchst kritisch waren. Doch dann stellt Jesus die entscheidende Frage: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ Petrus gibt für die anderen die Antwort. Sie ist kurz, aber von unabschätzbarer Tragweite: Wir halten dich „für den Christus Gottes“! Sie haben Jesus näher kennengelernt, sind nicht mehr angewiesen auf das, was die anderen sagen. Wir ahnen heute kaum mehr, was dieses kleine Wort für Petrus und seine Gefährten bedeutet hat. Sie sind zur Gewissheit gekommen: Du bist der Messias, der Christus, der seit langem Verheißene, von allen sehnsüchtig Erwartete. Was Petrus sagt, ist nicht nur eine Feststellung, sondern ein Bekenntnis. Und so ist es bis heute geblieben. Das christliche Bekenntnis hat das zur Mitte: Jesus für den von Gott Gesandten zu halten und daher auf ihn zu hören, ihm nachzufolgen. „Christen“ wurden die Anhänger Jesu schon früh genannt, weil sie Jesus als den Christus, den Messias Gottes halten. Deshalb ist auch die persönliche Beziehung zu Jesus, die Liebe zu ihm, im Herzen des christlichen Glaubens.
Doch daran scheiden sich die Geister. Schon damals musste Jesus Missverständnisse abwehren. Daher sein Verbot, davon zu reden, dass er der Messias sei. Zu naheliegend war eine politische Deutung seiner Sendung. Stattdessen redet er von seinem bevorstehenden Leiden. Er verspricht nicht eine heile Welt. Ganz nüchtern lädt er ein: Wer mit mir meinen Weg gehen will, „nehme täglich sein Kreuz auf sich“. Alle haben wir ein eigenes Kreuz zu tragen, täglich, lebenslang. Das kann der eigene Charakter sein, den wir (und die anderen) ertragen müssen; das können die Mühsale der Arbeit, die Konflikte im Beruf, in der Familie sein, körperliche und seelische Beschwerden. Wir alle lernen, welches Kreuz uns persönlich zugemutet ist. Sich selber und sein Kreuz anzunehmen, nicht passiv, als Schicksal, sondern als Weg, auf dem Gott uns nicht allein lässt: Diese Erfahrung haben zahllose Menschen gemacht, indem sie einfach versucht haben, Jesus nachzufolgen.