Bin ich mehr rückwärtsgewandt oder eher zukunftsorientiert? Und wie sieht die richtige Ausgewogenheit zwischen beiden Haltungen aus? Denn beide gehören offensichtlich zum Leben.
Bin ich mehr rückwärtsgewandt oder eher zukunftsorientiert? Und wie sieht die richtige Ausgewogenheit zwischen beiden Haltungen aus? Denn beide gehören offensichtlich zum Leben.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 26. Juni 2022
Nach vorne schauen, nicht zurückblicken. Das ist der Tenor des heutigen Evangeliums. Es ist eine starke Ermutigung, sich entschieden auf den Weg zu machen, nach vorne, dem Kommenden entgegen. Es lohnt sich daher, angeleitet von den Worten und dem Verhalten Jesu, die Frage nach der eigenen Lebensorientierung zu stellen: Bin ich mehr rückwärtsgewandt oder eher zukunftsorientiert? Und wie sieht die richtige Ausgewogenheit zwischen beiden Haltungen aus? Denn beide gehören offensichtlich zum Leben.
Blicken wir zuerst auf das Verhalten Jesu. Er ist etwa dreiunddreißig Jahre alt, in der vollen Kraft seines Lebens. Eine erfolgreiche Zeit liegt hinter ihm, seit er mit dreißig Jahren Beruf und Zuhause verlassen hat, um als Wanderprediger vor allem in Galiläa zu wirken. Jetzt steht er an einer Schwelle. Er spürt, dass seine Lebenstage auf Erden sich dem Ende zuneigen. Da fasst er den festen Entschluss, nach Jerusalem zu gehen. Wörtlich sagt der Evangelist Lukas, Jesus habe „sein Antlitz stark gemacht“. Er schaut entschieden nach vorne, er blickt nicht mehr zurück. Er geht auf sein Ziel zu. Und dieses Ziel besteht darin, dass er „hinweggenommen werden sollte“, im Klartext: Sein Tod steht bevor und als dessen Folge die Heimkehr zu Gott, der Blick auf das ewige Leben.
Ein klares Ziel vor Augen zu haben verleiht Kraft, setzt Energie frei. Es gibt dem Leben Sinn und Orientierung. Jesus ist erfüllt von der Aufgabe, die er als Auftrag Gottes sieht. Deshalb drängt es ihn, sie zu verwirklichen. Und das muss in Jerusalem geschehen, im Zentrum des jüdischen Glaubens und Lebens. Dort muss sich seine Sendung verwirklichen: die Befreiung seines Volkes und letztlich aller Menschen.
Wie er seinen Auftrag nicht versteht, zeigt die Szene in Samarien, wo man Jesus und seine Leute nicht aufnehmen will. Jakobus und Johannes wollen gleich Rache üben und wünschen den ungastlichen Samaritern Feuer vom Himmel, das sie vernichten soll. Genau das ist nicht der Weg und das Ziel Jesu, und immer wieder müssen die Christen neu lernen, dass es nicht angeht, mit Feuer und Schwert das Evangelium Jesu zu verbreiten.
Wie aber sieht der Weg Jesu aus? Wie geht es denen, die sich auf seinen Weg einlassen? Was Jesus ihnen sagt und zumutet, ist alles eher als einladend. Fast wäre man versucht, ihm zu entgegnen: Wenn du die Latte so hoch legst, darfst du dich nicht wundern, dass dir nur wenige wirklich ernsthaft nachfolgen! Und doch sind seine Worte faszinierend und haben immer neu Menschen bewogen, sich ganz auf seinen Weg einzulassen. „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester“, sagt Jesus. Er selber sei ohne Obdach. Und doch: Wer ihm nachfolgt, erlebt eine tiefe Geborgenheit, die kein irdisches Zuhause geben kann. „Lass die Toten ihre Toten begraben“, sagt Jesus einem anderen. Das klingt furchtbar hart, ist aber die Einladung, an das Leben zu glauben, das stärker ist als der Tod. Wer die Hand an den Pflug legt, soll nicht zurückblicken, sagt er einem Dritten. Schau nach vorne, sagt Jesus dem, der noch zu sehr an seiner Geschichte hängt.
Junge Menschen schauen spontan nach vorne. Das Leben liegt vor ihnen. Im Alter kann man auf vieles zurückblicken, und das ist gut. Mit Jesus lernen wir, im Heute zu leben und uns alle auf das auszurichten, was vor uns liegt: das Leben, das über den Tod hinausreicht.
Lukas 9,51-62
Es geschah aber: Als sich die Tage erfüllten, dass er hinweggenommen werden sollte, fasste Jesus den festen Entschluss, nach Jerusalem zu gehen. Und er schickte Boten vor sich her. Diese gingen und kamen in ein Dorf der Samariter und wollten eine Unterkunft für ihn besorgen. Aber man nahm ihn nicht auf, weil er auf dem Weg nach Jerusalem war. Als die Jünger Jakobus und Johannes das sahen, sagten sie: Herr, sollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel fällt und sie verzehrt? Da wandte er sich um und wies sie zurecht. Und sie gingen in ein anderes Dorf. Als sie auf dem Weg weiterzogen, sagte ein Mann zu Jesus: Ich will dir nachfolgen, wohin du auch gehst.
Jesus antwortete ihm: Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann. Zu einem anderen sagte er: Folge mir nach! Der erwiderte: Lass mich zuerst weggehen und meinen Vater begraben! Jesus sagte zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh und verkünde das Reich Gottes! Wieder ein anderer sagte: Ich will dir nachfolgen, Herr. Zuvor aber lass mich Abschied nehmen von denen, die in meinem Hause sind. Jesus erwiderte ihm: Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.